Wenn erst Friede ist  © 2005

DIE VORGESCHICHTE

Ein Fenster ins Freie















































































   Als ich Valerie Kittel im Winter 1985 kennenlerne, lebt sie noch immer in ihrer Wohnung in Wien-Penzing, in der sie fünf Kriegsjahre hindurch Seite um Seite an ihren Mann Anton geschrieben hat. Insgesamt hat das Ehepaar damals über 600 Briefe ausgetauscht. Während sie aus der Sicht der zur Passivität Gezwungenen das kriegsgedrückte Wien schildert, führen seine Briefe nach Znaim, an die Westfront und schließlich über Schlesien und Polen nach Rußland.
   Seit Kriegsende bis vor kurzem hat Frau Kittel keinen Blick mehr in die Mappen mit den Briefen geworfen. Aufgehoben hat sie alle, sofern sie nicht schon während des Krieges vernichtet wurden oder verlorengingen. Denn Valerie Kittel ist eine Archivarin ihres Lebens.
   Sie hat mir erlaubt, dieses persönliche Archiv aus Briefen, Fotos und Tagebuchnotizen zu benützen, und hat in vielen Gesprächen ihre Erinnerungen hinzugefügt. Auch die Freunde, die in den Briefen erwähnt werden und noch am Leben sind, waren fast alle bereit, in ihrem Gedächtnis zu stöbern. Sie haben dazu beigetragen, daß sich für mich (und hoffentlich für viele andere) der Vorhang vor den verdrängten Kriegsjahren wieder ein wenig weiter öffnet.
   Nur Gegner des Regimes kommen in diesem Buch vor - aber nicht die großen Helden und Widerstandskämpfer, sondern Menschen, deren Handlungen des Widerstandes "spontan und sporadisch auftraten und dennoch für die Beteiligten von den schwersten Folgen begleitet sein konnten" (Karl Stadler). Die Freunde, Bekannten und Verwandten der Kittels sind im Sinne einer quantitativen Forschungsmethode keineswegs repräsentativ für die antinationalsozialistischen Kräfte in Österreich. Die einschlägige wissenschaftliche Literatur läßt jedoch den Schluß zu, daß sie sich typisch für die meisten Kritiker des Nazi-Regimes in unserem Land verhielten. Manche von ihnen hätten zu Märtyrern werden können, wenn das Glück sie nicht vor der Entdeckung ihrer Opposition und ihres Ungehorsams bewahrt hätte. Andere duckten sich oder tarnten sich, wie sie selbst es ausdrücken. Die meisten der Menschen, die uns in den Briefen entgegentreten, sind mit dem Leben davongekommen. Einige mußten sterben - nicht nur, aber vor allem aus dem Kreis der jüdischen Freunde.
   Valerie und Anton Kittel begannen im Februar 1940, ihre Beziehung schriftlich weiterzuführen. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Klammer der Nazi-Herrschaft bereits seit zwei Jahren um Österreich gelegt. Judenverfolgung und Repression der politischen Gegner waren in vollem Gange. Seit fünf Monaten herrschte Krieg. Erst eine Woche vor Kriegsausbruch entschlossen sich Valerie und Anton Kittel innerhalb weniger Tage ihre bereits 14 Jahre bestehende Verbindung zu legalisieren. Die beiden hatten sich 1925 in einer Organisation der Sozialdemokratischen Partei kennengelernt. Valerie Kittel stammte aus einem Arbeiter-Elternhaus und war über den kurzen nationalen Umweg des Deutschen Turnvereins im Jahr 1923 endgültig und für immer zur Sozialdemokratie gelangt. Ihr Eintritt in "die Partei" war eine Reaktion auf Hitlers Putschversuch im November desselben Jahres in München.
   Valerie Kittels Persönlichkeit und Entwicklung bis zum Jahr 1938 ist plastischer nachzuvollziehen als die ihres Mannes. Sein Charakter und sein Lebensweg sind nur durch die Berichte seiner Frau, seine Briefe und einige Fotos überliefert. Dieses Faktum trifft auch für den Hintergrund seiner Kriegsjahre zu. Nur einer der Kameraden, die er in den Briefen nennt, konnte von mir ausgeforscht werden: Dr. Franz Richter, damals Student, heute pensionierter Lehrer und Generalsekretär des österreichischen PEN-Clubs.
   Über Valerie Kittel erfährt man nicht nur von ihr selbst sehr viel, sondern auch von ihren zahlreichen Freunden und Kollegen. Drei Bereiche prägten ihren Lebensweg: die sozialistische Partei, ihr Beruf und ihre Familie.
   Sowohl Valerie wie auch Toni waren durch ein Netz verwandtschaftlicher Verbundenheit gesichert. Valeries Eltern, Robert Josef Schuécker und Maria Anna Kudernatsch, wurden beide, wie später Vally selbst in der Quellenstraße im Wiener Arbeiterbezirk Favoriten geboren, der Vater 1881, die Mutter 1884. Er erlernte den Drechslerberuf, arbeitete aber später als angelernter Dreher. Während seine Vorfahren im Waldviertel beheimatet waren, stammen die Vorfahren der Mutter aus Böhmen und Mähren. Wie schon Vallys Großmutter verdingte sich auch die Mutter vorerst als Dienstmädchen, bis zur Geburt der zweiten Tochter Herma 1907 war sie dann bei einem Fotografen in der Wiener Innenstadt Hilfskraft in der Dunkelkammer.
   "Ich hab den Aufstieg am eigenen Leib erfahren, von ganz unten. Wir hatten arme Verhältnisse und die ganze Kindheit war so gestaltet", blickt Frau Kittel zurück. 1905 wurde sie geboren, und bis 1918 zog die Familie "auf der Kreta", wie die Gegend um die Quellenstraße genannt wurde, von Wohnung zu Wohnung: "Immer Zimmer-Küche. Wir lebten da zu viert oder zu fünft mit Untermieter."
   1918 brachte nicht nur den Bruch von der Monarchie zur Republik (Vally erinnert sich an bittere Tränen, die sie dem Kaiser nachgeweint hat), sondern auch die Übersiedlung aus dem Arbeiterbezirk in das bürgerliche Hietzing.
   Dort, in einer Hausbesorgerwohnung in der Höritzergasse, waren die Wohnverhältnisse noch beengter: "Da haben wir überhaupt nur ein Kabinett statt eines Zimmers gehabt. Die Ehebetten sind drin gestanden und links und rechts die Kästen. Aus. Das Kastenbett war zwischen den Kästen, beim Fenster, da haben wir wahrscheinlich zu zweit drin geschlafen. Aber insofern war die Wohnung eine soziale Verbesserung, als in der Wohnung Gas und Licht war, das Klo war herinnen und Wasser in der Küche. Das war ja ein kolossaler Aufstieg. Die Küche hat sogar ein Fenster gehabt. Das hat es im zehnten Bezirk nie gegeben, eine Küche mit einem Fenster ins Freie. "
   In diesem Bezirk blieb Valerie Kittel nun ihr Leben lang. Hietzing - seit 1938 Penzing - wurde auch ihre politische Heimat. Ihre Eltern scheinen gute Sozialdemokraten mit dem für diese üblichen patriarchalischen Familienschema und einem starken Aufstiegswillen gewesen zu sein. Der Vater las den Töchtern an manchem Abend vor. Die Mutter kaufte Vally eine Zither, zahlte ihr Unterrichtsstunden, und Vally gab, so erzählt sie, das erworbene Wissen an die Schwester Herma weiter. Der Vater war sehr streng. Zur Bestrafung der Kinder verwendete er auch eine mit Lederstreifen versehene Rute, die Vally allerdings selten zu spüren bekam. "Angeblich war ich immer die Brave." Auf gute Schulerfolge legte der Vater größten Wert, und die Mädchen gehörten tatsächlich zu den besten Schülerinnen ihrer Klasse. Nach der Bürgerschule besuchte Valerie die Handelsschule, Herma absolvierte eine Schneiderlehre.
   Auf die Frage, wer die fur sie so charakteristische Wißbegier genährt habe, fallen Valerie Kittel außer dem Vater ein Onkel ein, der - früh verstorben - eine Stellage mit Büchern hinterlassen habe, und ein älteres "Fräulein" im Hietzinger Wohnhaus. Diese "Dame" unterrichtete die eifrige Hausbesorgerstochter in Französisch und versorgte sie mit Lektüre.
   Wer Valerie Kittel den Antrieb fur das spätere Verhaftetsein im Beruf, für die eigenverantwortliche politische Tätigkeit und die für eine Frau ungewöhnliche Lebensgestaltung (sie führte zum Beispiel auch während ihrer Ehe nie einen Haushalt im herkömmlichen Sinn) vermittelte, ist schwer zu sagen. Sicher ist, daß sie als ältere Schwester starke Dominanz- und Verantwortungsgefühle entwickelte, die sie auf den Lebensgefährten und politische beziehungsweise Arbeitssituationen übertrug. Teilweise war es die durch politische Konstellationen erzwungene Lebensrealität wie die Arbeitslosigkeit des Vaters, Lebensgefährten und Schwagers nach 1934, die sie in ihre emanzipierte Lebensgestaltung drängte.
   "Immer sehr aktiv, aber nie in Spitzenfunktionen" beschreibt Valerie ein Charakteristikum ihres beruflichen und politischen Lebensweges. Sie saugte voll Interesse und Wißbegier alles in sich auf, weil sie aber schüchtem und introvertiert war, erkannten nur die vertrautesten Menschen ihre Qualitäten ganz. Ihr Bekanntenkreis ist riesig, ihre Freundschaften währen lebenslang. Die altmodische Eigenschaft "Treue" ist ein Grundzug ihres Wesens. Freunde aus der sozialdemokratischen Bewegung nennen sie einen Inbegriff dessen, was man in der hoffnungsvollen Zwischenkriegszeit als "neuen Menschen" bezeichnete.
   1923 trat Valerie Kittel gemeinsam mit ihrer Schwester in die Sozialdemokratische Partei ein. Im Alter von zwanzig Jahren begegnete sie hier dem damals fünfzehnjährigen Toni Kittel. Er kam nach der Schule in jene Übergangsgruppe von den Kinderfreunden zur Sozialistischen Arbeiterjugend (SAJ), die Valerie leitete.
   Er sei ihr aufgefallen, weil er so aufgeschlossen und lebhaft war. Weich, liebesbedürftig, ein Gesellschaftsmensch und wenig theoretisch veranlagt, so ist er Valerie Kittel in Erinnerung geblieben.
   Seine Mutter, Hedwig Kittel, 1884 in Loosdorf bei Melk geboren, "war eine einfache Hausfrau, die in der Wirtschaft und beim Kochen sehr angesehen war" (Valerie). Vater Franz Kittel, 1879 in Jägerndorf in Schlesien zur Welt gekommen, war Bahnangestellter und gerade im niederösterreichischen Mistelbach, als Sohn Toni geboren wurde. Tonis Brüder Franz und Karl waren zur Zeit des Zweiten Weltkrieges wie der Vater bei der Bahn beschäftigt. Dieser hatte sich vom Schaffner zum Revisor im Fahrdienst emporgearbeitet und rückte schließlich in eine Funktion in der zentralen Fahrplangestaltung auf. Solange er im Fahrdienst war - während der Zeit des austrofaschistischen Ständestaats und in den Anfängen der Nazi-Zeit -, diente Franz Kittel, wie Vally erzählt, als Kurier. Er schmuggelte Post, die ihm Angehörige der emigrierten Genossen und jüdischen Freunde seiner Schwiegertochter über diese anvertrauten, nach Buchs in die Schweiz.
   Als ein bedeutendes Ereignis in Valeries Leben stellte sich später die Teilnahme am Zweiten Sozialistischen Jugendkongreß in Amsterdam vom 26. bis 29. Mai 1926 heraus. Auf dieser Reise lernte sie Toni Kittel näher kennen und knüpfte Kontakte zu vielen heute prominenten Genossen.
   Bis 1934 verbrachte Valerie Kittel fast die ganze Freizeit in Organisationen der Sozialdemokratischen Partei. Sie bewegte sich in diesen Jahren in einer völlig "rot" gefärbten Gesellschaft. "Den Christlichsozialen gegenüber war eine sehr große ...große Abneigung. Ja, es war eine wirkliche Kampfsituation, auf theoretischem, organisatorischem und politischem Gebiet vor allem." Man las Parteizeitungen und Parteizeitschriften, theoretische Literatur, hörte Vorträge, Seminare und Reden der "eigenen" Leute und war daher über die politische Situation immer auf dem laufenden - allerdings allein aus der Sicht der sozialdemokratischen Hälfte der Republik. Auf die Frage, ob sie damals jemals mit "Schwarzen" zusammengetroffen sei, fällt ihr nur die kämpferische Begegnung Toni Kittels als Schutzbundmitglied mit den bewaffneten Heimwehren ein. 1927, nach dem Justizpalastbrand traten Vally, Toni und viele andere Genossen aus der katholischen Kirche aus.
   Frau Kittel, damals Valerie Schuécker, muß wie ein Fisch im Wasser der bildungs- und sendungsbewußten Partei der zwanziger und dreißiger Jahre geschwommen sein. Rudolf Neuhaus, der Obmann der Hietzinger Unterrichtsorganisation, holte Valerie, Toni, Herma und ihren Mann Hans Pillwachs, sowie andere Mitglieder der SAJ in sein Team. Die Unterrichtsorganisation hatte ein eigenes Haus in der Penzingerstraße 72, dessen Räume adaptiert und auf Hochglanz gebracht wurden. Man arbeitete autonom und brachte Geld unter anderem mit einer Tanzschule herein. "Es war damals ziemlich gebräuchlich, daß die Parteiorganisationen Tanzschulen aufgemacht haben, auch in den anderen Bezirken, aber unsere Tanzschule hat besonderen Anklang gefunden." Toni, Obmann der SAJ-Hietzing, vertrieb für die Bildungsorganisation Hefte, Broschüren und Bücher und veranstaltete die Weihnachtsbuchausstellungen. Es erübrigt sich zu betonen, daß die Funktionäre mit Begeisterung jedes Buch selbst lasen, ehe es in die Büchereien der Partei ausgeteilt wurde. Valerie war Schriftführerin im Ausschuß der Unterrichtsorganisation.
   In Amsterdam hatte sie Ria und Felix Kanitz kennengelernt und kam so in Kontakt mit dem "Schönbrunner Kreis" und der "Arbeitsgemeinschaft sozialistischer Erzieher"; sie hatte auch in der damaligen Zentrale der Partei im Vorwärts-Haus auf der Wienzeile zu tun. Anny und Alois Piperger, Ludwig und Lintschi Sperlich, Franz Senghofer, Fanny Spindler-Vobr, Leo Mistinger, Albert Sever, Alfred Migsch, Gabriele Proft waren einige Genossen, zu denen, wie aus den Briefen ersichtlich ist, der Kontakt auch während der Nazi-Zeit nicht ganz abbrechen sollte.
   Den 7. Mai 1928 sieht Valerie Kittel noch heute als die große Wende in ihrem Leben an. An diesem Tag wechselte sie von einer Privatfirma in die "Versicherungskasse der Kaufmännischen Angestellten", deren Nachfolgerin die Wiener Gebietskrankenkasse für Arbeiter und Angestellte ist. "Was wäre sonst wohl aus mir geworden?", fragt sie, als ich sie zufällig am 7. Mai 1986 besuche. Sie zeigt mir ihren Anstellungsbrief. Darin wurden ihr 190 Schilling Monatsgehalt verbürgt. Vorerst arbeitete sie im Direktionsvorzimmer. Ihr Chef war der sozialistische Bundesrat Max Klein. Den Arbeitsplatz ihr gegenüber nahm Rosa Ehrlich ein, "eine Jüdin, eine sehr gebildete Frau aus reichem Haus. Sie hat mich sofort unter ihre Fittiche genommen und mir alles Mögliche beigebracht." Rosa Ehrlich wurde "die große und weise Freundin".
   Rosa und ihr Mann Dr. Otto Ehrlich, früher Bankbeamter und während der Rezession ein renommierter Erwachsenenbildner, führten die schon 23jährige, aber nach eigenen Worten für ihr Alter sehr weltfremde Vally in Wiener jüdisch-intellektuelle Kreise ein. Wichtige Anregungen und neue Bekanntschaften brachte ihr bald darauf die Teilnahme an einem Frauenkurs der Wiener Arbeiterhochschule. Bei Referenten wie Otto Bauer und Käthe Leichter studierte sie Sozialversicherungsrecht und Sozialpolitik.
   Mit dem 12. Februar 1934 brach diese Welt, in die Frau Kittel auch ihren jungen Freund eingeführt und verwurzelt hatte, zusammen. In Beruf und Freizeit vollzogen sich einschneidende Änderungen.
   Natürlich kam die bewaffnete Auseinandersetzung zwischen Sozialdemokratischer Partei und Christlichsozialen beziehungsweise zwischen Schutzbund und Heimwehr nicht unerwartet. "Man hat das schon gewußt. Das Parlament ist 1933 ausgeschaltet worden. Man hat für diesen Kampf schon Waffen gesammelt." Auch in der Kittelschen Wohnung wurden Waffen versteckt, zum Beispiel Handgranaten unter den Matratzen.
   Valeries Chef, den Sozialisten Max Klein, verhaftete man bereits am Nachmittag des 12. Februar. Dasselbe geschah zahlreichen anderen Vorgesetzten und Gewerkschaftern, mit denen die "rote" Krankenkasse enge Beziehungen gehabt hatte.
   Die sozialistische Welt versank in Niedergeschlagenheit und Angst: "Man hat jeden Augenblick erwarten müssen, daß man selbst verhaftet wird."
   Schwager Hans Pillwachs war von 1930 bis 1934 Bezirkssekretär der Partei in Hietzing gewesen. Er verlor jetzt natürlich diesen Posten und saß einige Monate im Anhaltelager Wöllersdorf (wie viele andere Gegner des austrofaschistischen Ständestaates). Toni Kittel hatte nach der Buchhändlerlehre die Graphische Lehr- und Versuchsanstalt absolviert, in der Hoffnung, als Fotograf bessere Berufschancen vorzufinden. Nachdem diese Hoffnung enttäuscht worden war, hatte er schließlich Arbeit bei einer Versicherungsanstalt gefunden. Aber als Toni von der Standgerichtsverhandlung gegen den Hietzinger Schutzbundobmann Fritz Quastler weg im Gerichtssaal verhaftet und zu acht Tagen Arrest verurteilt wurde, bedeutete dies auch ein "Aus" für seine neue Stelle. Übrigens hatte Toni schon im Vorjahr wegen seiner Zugehörigkeit zum 1933 verbotenen Schutzbund eine Woche hinter Gittern verbracht. "Es war ein großer Eingriff in unsere Familienverhältnisse", resümiert Valerie Kittel die Auswirkungen des 12. Februar. "Meine Schwester stand allein mit einem einjährigen Kind da, und mein Mann war ohne Posten."
   Deklarierte Sozialisten, wie Valeries Freund und Arbeitskollege Robert Uhlir, wurden aus der Krankenkasse entlassen. Ein Regierungskommissär übernahm deren Leitung. Christliche und "rote" Krankenkassen wurden zusammengelegt. Neue Mitarbeiter aus dem christlichsozialen Lager ersetzten die sozialdemokratischen. Vallys Förderin Rosa Ehrlich kam in eine andere Abteilung. Auch Valerie Kittel selbst wurde versetzt und hatte sich fortan um Personalangelegenheiten zu kümmern. Im Jahr 1937 übersiedelte ihr Büro von der Kolingasse in die Mariahilfer Straße und Vally mußte in die Buchhaltung. "Ich wurde immer mißtrauisch betrachtet, denn man wußte ja, wer ich bin. "
   Die Sozialdemokratische Partei in Österreich war nun verboten, aber in Brünn richteten Dr. Otto Bauer und andere, wie Josef Pleyl, der Ehemann von Vallys Freundin und Arbeitskollegin Fini Pleyl, das neue Sekretariat der Revolutionären Sozialisten ein, zu denen sich Valerie Kittel zugehörig fühlte. Sie begann sich bald illegal zu betätigen - bis der "Anschluß" im März 1938 dem ein Ende setzte.
   Viele der "wirklichen" Genossen seien miteinander in Kontakt geblieben, erinnert sich Valerie. "Natürlich sind auch viele gleich anders geworden. Das hat man im Büro sehr gut gemerkt, unter den Kollegen, und das ist natürlich ausgiebig besprochen worden, wer brav geblieben ist und wer nicht. "
   Ob sie nie daran gedacht habe, wie gefährlich ihre illegale Tätigkeit sei und ob sie nie selbst erwogen habe, der Partei den Rücken zu kehren, um die eigene Haut zu retten? Auf diese Frage geht Frau Kittel gar nicht ein.
   In der Illegalität war sie für Robert Uhlir und Wilhelmine Moik tätig. Moik kannte sie von ihrer Mitarbeit bei den Freien Gewerkschaften her. "Die genauen Zusammenhänge haben wir nie erfahren. Man hat immer nur einen kleinen Kreis gekannt, den eigenen Zirkel. Wieviele Zirkel es gab, wußte man nicht. Wir haben die illegale, in Brünn gedruckte 'Arbeiter-Zeitung' vertrieben und Zusammenkünfte über politische Tagesfragen gehabt. Diesbezüglich war der Karl Czernetz unser Chef. Er hat unter dem Decknamen Thomas agiert. "Ihr eigener Deckname lautete Lehner. Es ist anzunehmen, daß sie zu einer der illegalen Organisationen der Revolutionären Sozialisten, die sich ab Frühsommer 1934 bereits in ganz Österreich betätigten, gehörte. Da sie den Namen Wilhelmine Moik nennt, könnte sie auch bei der von Moik bis zu ihrer Verhaftung unter den Nazis geleiteten Sozialistischen Arbeiterhilfe (SAH) mitgewirkt haben. Zusätzlich erinnert sie sich an Aktionen für die illegale "Freie Angestelltengewerkschaft" Friedrich Hillegeists.
Hoffte man damals, bald wieder ans politische Tageslicht zu kommen? "Nein, ich glaub, das hat man nicht gehofft. Aber man hat gehofft, daß uns die Nazis erspart bleiben, die ja schon in Deutschland an der Macht waren und die größte Agitation, auch in Österreich, ausgeübt haben. Ich war außerdem durch meine vielen jüdischen Freunde darüber informiert, die damals alle schon ganz alarmiert waren, von ihren Freunden wieder, die in Deutschland lebten und alle in die Emigration gehen mußten." Viele Juden wählten auch in Österreich schon vor 1938 die Auswanderung. "Wir waren alle Augenblicke am Bahnhof und haben uns von Leuten verabschiedet."
   Valerie Kittel bestätigt, daß in der illegalen Phase von 1934 bis 1938 die Vaterländische Front als Hauptgegner angesehen wurde. "Man hat die Heimwehren und die Christlichsozialen gehaßt, weil sie uns unmittelbar bedrängt und die ganze Situation herbeigeführt haben. Viele unserer Leute haben sich Illusionen gemacht: Wenn die Nazi kommen, werden sie uns nichts machen, denn wir sind ja schon vier Jahre ausgeschaltet. Das waren natürlich nicht die Leute, die irgendwelche Funktionen gehabt haben. Wir Mitarbeiter konnten uns diesbezüglich keine Illusionen machen. "


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