Ruth Linhart | Reisen | Texte Start Nepal 95 | weiter | Fotos

Das weisse Haus von Golbaithak

5.3.1995, im Forstministerium und beim weißen Haus



Gol Baithak
Der Mann, der uns im Forstministerium half, sagte, der "Master Plan for the Forestry Sector Nepal" basiere auf "Users´groups", die erhielten Stücke des Waldes zur Bewirtschaftung. Die lokale Bevölkerung habe eine wichtige Rolle beim Schutz und der Entwicklung des Waldes, der in Nepal sehr gefährdet ist. 37 Prozent des Landes sind mit Wald bedeckt. Siehe dazu auch den heutigen Artikel in der Kathmandu Post.

Ich schreibe wieder einmal bei Kerzenlicht. Wie schon öfters ist am späten Nachmittag der Strom ausgefallen. Hansi liegt. Wir waren auf Swayambunath. Sahen zwei Äffchen, die sich innig unschlungen hielten, die Äffin hatte einen Haarkranz um den Kopf und schaute sehr versonnen in die Gegend. Es wimmelte heute von Affen.
Den ganzen Tag war es bewölkt, teilweise fast schwül, teilweise kühl. Jetzt leuchtete die untergehende Sonne wieder hellorangerosa, lachsfarben, hinter den westlichen Hügeln, und im Osten, wo tiefe dunkel Wolken hingen, schien sich dieses Abendrot widerzuspiegeln, als violettroter Streifen.

Übrigens, auf dem Weg nach Swayambunath gingen wir an einem Schneiderladen vorbei, in dem die Hosen und Blusen und Jacken mit den bunten Streifen genäht werden, die man im Thamel zum Verkauf angeboten sieht. An den Steinezerklopfern, die auch im graurosa Zwielicht noch klopfen. Ein Bub zum Beispiel hockend, mit einem Riesenhammer auf einen großen Stein einschlagend. Wir gingen auch an einer Frau vorbei, die neben der Straße unter einem Baum weiße Wolle spann. Hans nennt die Häuser hier "Escherhäuschen", weil sie alle mit Treppchen, Giebelchen, Erkern, Dachgärtchen etc. versehen und ganz unsymmetrisch sind.

Wir verließen am Vormittag das Hotel um zirka 1/2 11 Uhr. Die Künstlerin hat Hans beim Frühstück wegen dem Kauf eines Objektivs gefragt und erzählt, daß ihr Sohn Fotograph sei, und sie habe ihm ein Objektiv um 1300 Mark geschenkt. Dann machten wir unsere Post fertig und mit vier Briefen - den letzten für das Büro hatten wir heute noch fabriziert - und 31 Karten auf dem Weg zum Postamt.
Wir gingen bis Chatrapati zum Rondell und gabelten dort eine Fahrradriksha auf. Fast hatten wir nicht Platz, ich klemmte so darauf, daß ich befürchtete, bei einer heftigen Kurve abgeworfen zu werden. Das Rad quietschte und der kleine lustige Mann trat stark in die Pedale, klingelte, pfiff, und gegen die Hunde verwendete er "Tsch!"
Er fuhr in die falsche Richtung. Ich machte ihn darauf aufmerksam. Er drehte um und fuhr wieder in die falsche Richtung und ließ uns im Thamel vor einem China-Lokal absteigen. ("General Post Office" klingt das wie "Chinese...."?)
Etwas verärgert war ich schon, denn wir waren weiter vom Postamt weg als zuvor. Wir machten uns auf den Weg, da wartete der Rikshafahrer, der sich in der Zwischenzeit bei einem Juwelier erkundigt hatte, wo das Postamt sei. Er forderte uns auf, erneut einzusteigen und so kurvten wir wieder mit ihm halsbrecherisch zwischen Fußgängern, Radlern, Lastträgern, Motorrädern, Motorrikshas, Autos, Lastautos und Traktoren hindurch.
Beim Postamt warteten lange Schlangen von Kunden und es wurde vor "pick pockets" gewarnt. Alles Wichtige stand groß auf Tafeln angeschrieben, sodaß wir wußten, wo wir uns um Marken anstellen sollten. Die sind sehr hübsch, wir klebten sie auf und warfen die Post hoffentlich in die richtigen Briefkastenschlitze.
Vor dem Postamt wartete unser Rikshafahrer auf neue Kundschaft. Aber wir lehnten sein Angebot ab, uns weiter zu befördern. Man hat ein allzu schlechtes Gefühl, wenn ein zarter kleiner Mann uns Riesen befördern muss. Nach der Holperei mußte ich außerdem eilig aufs Klo. Wir gingen zum Supermarket in der New Street, ich dort aufs öffentliche WC. Na ja! Freundliche Frauen befanden sich dort, ebenfalls Klientinnen. Vielleicht grauste die auch.
Wir setzten uns in die nächste Motorriksha, zum Forestry Ministry, dessen Adresse wir den Fahrer erklären konnten.
Das Forestry Ministry und viele andere Ministerien, Schulen und diverse internationale Einrichtungen sind im Stadtteil Thapathali. Das liegt an der Arniko-Road.

Jetzt sitzen wir im Speisesaal, im Explorer's Restaurant. Heute ist der Swami hier, der dicke Deutsche, der uns das Taxi zum Flughafen wegschnappte, das deutsche Ehepaar im Gespräch mit dem dicken Deutschen. Sie sprechen gerade darüber, daß der Dollar auf dem Tiefststand ist. Auch die Künstlerin ist da.
Wir rasten also los mit dem Taxi in Richtung Babar Mahal. Auf der breiten Arniko Road stiegen wir irgendwo aus, weil ich auf einem Gebäude das Wort "Forestry" las. Landroverartige "Patrol"-Autos neuester Bauart standen um das eher heruntergekommene "Forest Research und Survey Centre" herum. Im Parterre gab es die "Inventory"-Abteilung, im zweiten Stock den Chef des auf den vorhergehenden Seiten genannten "Hill Projects".
In diesem Gebäude sagte ich einem Mann meinen vorbereiteten Satz und zeigte ihm die englischsprachige FBVA-Broschüre und meine Visitenkarte. "Excuse me, we come from the Austrian Ministry of Forestry and we would be happy if we could get some information about the forest in Nepal".
Nach kurzem Hin- und Her sagte der Herr uns, daß das Forestry Ministry gleich in der Nähe an dieser Straße liege.
Wir gingen weiter, bis zum Portier eines Gebäudes, auf dem "Ministry of Forestry and Hill Conservation" zu lesen war. Er ließ uns durch. Im Ministerium, einem Ziegelgebäude, warteten wir vor einem Glaskobel, fragten dann den Mann dort dasselbe wie vorher. Der verwies uns an eine Tür, auf der es hieß, daß "Forestry advicer Dithal "in" sei. Er war aber nicht da, auch nicht sein Vorgesetzter im Nebenzimmer. Wir wandten uns an einen anderen Mann, der sehr freundlich war. Er hieß Herr Tej Bahadur und ist Training Manager des Forestry Development Projects of H.M.G. of Nepal, Ministry of Forestry and Soil Conservation and US Agency for International Development."
Er war etwas "at a loss" mit uns, weil wir ja sehr unspezifiziert "general information" über Nepals Wald wollten. Ich merkte, daß mein forstliches Englisch für ein Gespräch schwer ausreichen würde (auch die forstlichen Kenntnisse!). Noch dazu sprach Herr Bahadur lieber in Hansis Richtung. Hans wiederum wollte am liebsten gehen.
Jedenfalls war Herr Bahadur sehr nett, holte eine dicke akopierte Broschüre auf Englisch über den "Masters Plan" für den nepalesischen Wald, der von 1988 bis 2010 laufe und auf "user-groups" basiere. Die zwei dicken Broschüren und die dünne Zusammenfassung sind sehr interessant. Bahadur sagte, es gebe nur 15, 20 Ablichtungen, wir sollten sie lesen und wieder zurückgeben. Ich sagte, wir wollten sie für unsere Kollegen mitnehmen. Er sagte, es sei o.k. Ich werde ihm die "Ökobilanz Wald" oder etwas in der Art schicken.
Dann meinte er, die Broschüren seien zu unspezifisch. Er schrieb mir diverse Namen auf und sagte, morgen sei sein Kollege da, der habe präzisere Broschüren. Ob wir morgen so um 12/11 Uhr kommen könnten. Vorher sollten wir anrufen. Ich antwortete, wir würden uns die erhaltenen Broschüren zuerst anschauen und dann erst weiterfragen.
Ich will ja gar nicht so viel Zeit damit verbringen, sondern nur, wie ich sagte, ein bisschen Information über den nepalesischen Wald an meine Arbeitsstelle in Österreich zurückbringen. Wir verließen Herr Bahadur, uns bedankend, mit den schweren Dingern unter dem Arm und luden ihn ein, uns in Österreich zu besuchen.

In der Gegend des Forstministeriums gab es noch mehr Institutionen verwandter Art, land development und Ähnliches. Jetzt hatten wir vor, in diesem südöstlichen Teil der Stadt nochmals das "Vaterhaus" zu suchen.
Wir schwenkten von der breiten Arniko Road ab. Thapatali ist ein Viertel mit vielen, vielen Schulen, internationalen Institutionen und sehr großen "Escherhäuschen" mit niederen Ziegelmauern rundherum.
Als ich in diese Gasse eintrat, war mir alles auf einmal sehr vertraut. Ob wir hier gewohnt haben? Nein, die schmale asphaltierte Straße mit den Steinmauern rechts und links, hinter denen die Dächer von Gebäuden und Villen hervorschauen, wird mich an Wohnviertel in Japan erinnern! Das vertraute Gefühl blieb, wie wenn man in einen Schuh schlüpft, der sehr bequem ist.
Wir gingen die Gasse entlang, schauten die vielen Schulen an. Da war plötzlich rechts, einige Häuser weiter drüben, ein Erker und ein Dach zu sehen. Weiß, wie bei "dem" Haus, und hinten angebaut.
Auch Hans hatte es bemerkt. Aber zwischen diesem Haus und uns standen sehr viele andere Häuser und Mauern. Mir klopfte das Herz sehr schnell. "Nur keine verfrühte Aufregung!" Wir marschierten weiter durch die Gassen. Da gab es auch so ein langes Haus wie in der Nähe "des Hauses". Aber wir sind zu weit. Zurück.
Ein ungepflasterter Weg biegt ab von der asphaltierten Straße, führt eine Böschung hinauf, hinter einer Kurve - "das" Haus!

Ein weißes Haus. Ich bin noch immer nicht ganz sicher, ob es wirklich "das" Haus ist. Ein Privathaus. Keine Pappeln. Aber die Böschung. Früher dehnten sich dann weiter die Reisfelder. Aber die Veranda. Die Säulen. Die Fenster neu im Erker - Schlafzimmer der Eltern. Auch beim Wohnzimmer im ersten Stock neue Fenster. Der Erker auf der einen Seite. Die Veranda im ersten Stock und im Parterre. Die zwei Säulen am Eingang waren damals so wohl nicht?
Während wir auf das Haus starren, erscheint auf der Veranda ein etwa 30jähriger Mann mit einem schreienden Baby im Arm. "What do yo look for?" ruft er herunter. "I am looking for the house I have lived 36 years ago. Maybe this is the house!"
Der Mann verschwindet, ein Hund bellt, schließlich kommt er ohne Kind heraus in den Garten. Er ist sehr freundlich. Wann das gewesen sei? Er schaut das Foto an, das winzig und schlecht ist. Das bessere Foto vom Haus habe ich im Hotel.
Seine Familie wohne seit 1970 hier. Ab zirka 1960 habe ein amerikanischer Arzt, Dr. Dan, hier gewohnt. Vorher? Wie hieß mein Vater? "Dr. Walter Fischer." Wie hieß der Vermieter? "Somebody of the Rana-Familiy". "Wo arbeitete er?" "United Nations, ILO Organization". "Maybe my mommy can remenber."
Unser Gesprächspartner verschwindet für längere Zeit ins Haus. Auf der Veranda erscheint ein kleiner alter Mann mit einer Art Turban auf dem Kopf, hüpft, winkt, lacht zu uns herunter. Er erinnerte mich ans Rumpelstilzchen im Märchen. "Vielleicht ist das Kashi", dachte ich später. "Kashi, einer unserer Diener, der immer dort geblieben ist." Der junge Mann kommt wieder. "Next thursday my father returns, maybe he can remember more."
Wir sagten, wir kämen gegen Ende der Woche wieder. Im Hotel schaue ich das bessere Foto an. Das Haus ist "das" Haus! So ein komisches weißes Haus mit einseitigem Erker und einem Ornament das Dach entlang. Das ist "das" Haus!
Etwas schäbiger als in der Erinnerung, etwas kleiner. Aber es muß das Haus sein. Es ist fast nicht zum Glauben. Es ist vorhanden! Das weiße Traumhaus meiner Nepal-Zeit. Es gehört nicht mir. Ich kann nichts gewinnen, nichts Materielles, wenn es das Haus ist, in dem wir ein halbes Jahr gewohnt haben. Aber es ist doch, als hätte ich einen Edelstein gefunden, als hätte ich einen durchsichtig schimmernden Aquamarin geschenkt bekommen.
Ich habe das Haus! Ein Stück meines Lebens, das völlig in der Versenkung verschwunden war, heraufgeholt, verifiziert, zur Gegenwart gemacht. Darüber muß ich noch schlafen.

Wir verabschiedeten uns. Ich war gerührt. Hans machte Fotos. Wir fuhren mit einer sehr flotten Motorriksha zurück, tranken Tee im Dachpavillon, lasen in den interessanten Forstbroschüren und spazierten nach Swayambunath.

Ich habe vergessen, die Episode mit dem Schuster aufzuschreiben: Am Rückweg vom Haus zur Arniko-Straße saß ein Schuster auf einer Decke am Straßenrand mit Schuhen um sich herum, die er zu reparieren hatte. Ich hockte mich nieder und fragte ihn, ob er den gerissenen Riemen meiner Tasche reparieren könne. Er nickte, nahm die Tasche, flickte den Riemen mit grobem weißen Zwirn, rieb den weißen Faden mit schwarzer Schuhpaste ein und polierte darüber. Perfekt. Neben ihm saß ein jüngerer Bursch, vielleicht zwölf, dreizehn, der mich sehr ernst fixierte. Hans fotographierte die beiden. Er fragte, drückte aber bereits ab, als der jüngere Bub sich böse das Gesicht mit der Hand verdeckte.
Wieviel es kostet? Der Schusterbursche bewegte irgendwie den Kopf. "How much?" "Soviel Sie geben wollen." Hans gab ihm 20 Rupien, was ich zu wenig fand. "Jetzt hab ich ihm das Gesicht gestohlen." Hans war ganz zerknirscht.

Heute früh dachte ich, ich faxe eine Frauengruppe an, die ich auf meiner Liste von Kontakten stehen habe, für ein Interview. Aber nach der Erfahrung im Forestry Ministry möchte ich eigentlich darauf verzichten. Vielleicht kriege ich im Thamel ein Buch über nepalesische Frauen.
Hans, der vom "Master Plan" schon einiges gelesen hat, meint, daß alles, was er darin lese, auf die Überbevölkerung zurückgehe.

Ruth Linhart | Reisen | weiter | Fotos Email: Ruth Linhart