Wenn erst Friede ist  © 2005

RUSSLAND I - KOMMENTAR

Stoff für Heldenlieder










































Am 21. Dezember 1941 verabschiedete sich Valerie Kittel in Eisenstadt von ihrem Mann und sah ihn erst am 23. Dezember 1942 wieder.
   Im winzigen, rot gebundenen Notizbuch des Jahres 1942 steht in ausgebleichter Bleistiftschrift:
   23. 12.: 2 Uhr Büroschluß; bei Anny Jonak; bei Eltern und Kittel mit Karte vom 10. Toni um ¼ 11 Uhr nachts gekommen.
   Am 12. Jänner 1943: Mit Toni zur Bahn.
   Der Urlaub nach dieser langen, entfremdenden Trennungszeit scheint vollgepackt mit kulturellen und gesellschaftlichen Verpflichtungen gewesen zu sein. Beide Elternpaare, die Schwester- und Schwägerfamilien, Uhlirs, Cousin Otto, Grete Holzfeind, Sperlichs und die Familien von Kollegen konkurrierten mit Besuchen in Theater, Kino und Konzerten.
   Je länger der Krieg andauerte, desto stärker habe sich eine gewisse Distanz zwischen Toni und ihr bemerkbar gemacht, vor allem von ihrer Seite aus, errinnert sich Valerie Kittel. Eigentlich habe sie sich sowieso immer selber der beste Freund sein müssen. "Denn ihm habe ich auch nur so viel zumuten können, als er fähig war, aufzunehmen. Und meine komplizierten Probleme, sagen wir, inneren Probleme, die hab ich ihm nur insoweit eröffnen können, soweit ich mir vorgestellt habe, daß er sie verstehen wird. Nicht einmal er wäre imstande gewesen, dem zu folgen, was ich da alles zusammenspintisiert habe. Da hätte er höchstens gesagt", sie lacht, "was du für Ideen hast! Er war nicht kompliziert."
   An die charakterliche Verschiedenheit der beiden erinnert sich auch Hilde Uhlir: "Sie ware ein eher ruhiger Mensch. Ihn habe ich nur getroffen, wenn sie bei uns zu Besuch waren. Er war ein recht lustiger Kerl."
   Obwohl Valerie und Toni sich bis zu seinem Tod über 20 Jahre gekannt und mehr als 15 Jahre, davon 8 verheiratet, zusammengelebt hatten, führten sie doch nie den eng zusammengeschmiedeten Alltag der üblichen Partnerschaften. "Ich war doch immer sehr viel in Partei und Gewerkschaft beschäftigt, bei Sitzungen und manchmal auch abends nicht zu Haus, wenn ich das vorher angenommen hatte. Da gibt es Streitigkeiten. Oder er war bei seinen Eltern. Ich hab ja nie so gesorgt um ihn, ihm das Nachtmahl gerichtet, wir waren nie auf eine bestimmte Zeit festgelegt. Jeder hat sein eigenes selbstständiges Leben geführt. Unsere Ehe war auch anders, weil ich älter war." Sie erinnert sich nicht daran, eifersüchtig gewesen zu sein, wohl aber an seine Eifersucht.
   Je länger der Krieg dauerte, desto mehr trat in den Briefen der sexuelle Notstand in den Vordergrund. In der vollständigen Briefsammlung fällt das noch deutlicher auf als in der publizierten Auswahl. Valerie Kittel hat zwar zugelassen, daß sehr persönliche Briefe an die Öffentlichkeit gelangen, es ist aber verständlich, daß sie die "lieben Briefe", die "schönen Stellen", von denen manchmal die Rede ist, als letztes Privatreservat für sich behalten wollte. Auch aus dem gekürzten Briefwechsel wird aber deutlich, daß sie versuchte, durch ihre Briefe ihren Partner in sexuellen Belangen zu erfreuen.
   Ob auch andere Frauen versuchten, auf diese Weise ihren Männern und sich selbst Hilfe zu leisten, ist in der mir bekannten zeitgeschichtlichen Literatur nicht behandelt, vielleicht in der anderer Fachgebiete. Frau Kittel zieht sich auf diesbezügliche Fragen zurück: "Ich habe darüber mit niemandem gesprochen. Ich weiß nicht, wie das bei anderen Frauen war. Was mich betrifft, so habe ich mich gefreut, wenn mein Mann nach Hause kam. Ich glaube, daß ich die Enthaltsamkeit leichter ertragen habe als er. Für ihn als Mann muß das schrecklich gewesen sein, noch dazu unter so außergewöhnlichen Verhältnissen."
   Die Verhältnisse, in denen Toni Kittel den Winter 41/42 und 42/43 in Rußland verbrachte, sind ohne Zweifel für Menschen, die den Krieg nicht selbst erlebt haben, unvorstellbar. Dabei ging es den deutschen Soldaten um ein Vielfaches besser als der einheimischen Bevölkerung im östlichen Kriegsgebiet. Im Russlandfeldzug beschränkte sich die Befehlsgewalt der Generale nur auf die unmittelbare Kampfzone, dahinter wirkte eine riesige Organisation mit dem Decknamen "Oldenburg", die aus Partei, Gestapo, SS und anderen ideologischen und sonstigen Kontrolleinrichtungen bestand. Die eroberten Gebiete wurden systematisch geplündert. Die ausführenden Organe hatten den ausdrücklichen Auftrag, sich nicht um die Lebensbedingungen der Bevölkerung zu kümmern. Wer verhungere, den brauche man später nicht zu verjagen, um Platz für deutsche Kolonisten zu schaffen. Die Russen wurden als "Untermenschen" betrachtet.
   Die letzte große Offensive der deutschen Truppen, die Valerie fürchtete und Toni andeutete, setzte im August 1942 ein. Ab August standen deutsche Truppen vor Stalingrad. Damals ahnte man allerdings noch nicht, welche Bedeutung dieser Stadt wenige Monate später im Kriegsverlauf zukommen sollte.
   Auch die Verhältnisse an der "Heimatfront" gestalteten sich immer unerfreulicher. Eine empfindliche Einbuße an Lebensqualität brachten die zum ersten Mal am 27. März 1942 beschriebenen Fliegeralarme. In Deutschland begann der Luftkrieg mit aller Härte um diese Zeit, die Österreicher hatten noch Schonfrist, aber das wußte man zu diesem Zeitpunkt natürlich nicht. Schwer vorstellbar in unserer Luxusgesellschaft ist die Knappheit nicht nur an Lebensmitteln, an Kleidern, Schuhen, Brennmaterial, sondern zum Beispiel auch an den grundlegenden Kosmetika: "Nicht einmal eine richtige Seife hat man gekriegt. Da hat es eine gegeben, die war furchtbar, da war mehr Sand drin, als sonst etwas, sie war grün; mit der hat man sich nicht einmal die Hände waschen können. Damit man einmal ein Stück guter Seife ergattert hat, hat man schon viele Beziehungen haben müssen. Cremen hat es überhaupt nicht gegeben."
   All diese Unannehmlichkeiten vollzogen sich unter immer drückender werdender Bewachung und Bespitzelung, nicht nur im Büro, auch im eigenen Wohnhaus: "Da haben zwei Familien gespitzelt, eine ist eingewiesen worden, irgendwo aus Deutschland; die andere hat schon da gewohnt, die hat als erste die Fahne mit dem Hakenkreuz hinausgehängt. Das hat natürlich bei uns im Haus Aufsehen erregt, weil man vorher nicht gewußt hat, daß das Nazi sind", erzählt Valerie Kittel.

   Das Jahr 1942 brachte auch wieder neue Aufregungen und Schicksalschläge für die jüdischen Freunde.
   Lola Stärk dürfte bereits im Februar 1941, vorerst in Wien, untergetaucht sein. Zumindest schrieb sie am 8. Februar 1941, als Hans Reich aus Wien weg mußte, an Vally, sie habe ihre Wohnung verlassen, könne keinen Besuch mehr von ihr empfangen, sondern nur mehr ihrerseits Valerie besuchen. Dies geschah auch recht häufig, was aus den Notizbucheintragungen des Jahres 1941 hervorgeht.
   Vorerst ging Lola ins jüdische Spital, das Rothschild-Krankenhaus. Valerie Kittel vermutet heute, daß es sich dabei um einen Vorwand gehandelt habe: "Da sind so viele aufgenommen worden, um sie aus einer momentanen Gefahr zu retten." Aus den Anordnungen für den Judentransport nach Polen im Februar 1941 geht tatsächlich hervor, daß Patienten des Rothschild-Spitals in Wien bleiben konnten. Vielleicht hatte im Fall Lola Stärk sogar Valerie Kittel ihre Hand im Spiel. Der Leiter des Spitals und seit Anfang 1940 Vertrauensarzt der Israelitischen Kultusgemeinde war nämlich Dr. Emil Tuchmann, den Valerie Kittel aus der Krankenkasse gut kannte: "Er hat durchgehend bis 1945 einen Vertrag mit uns gehabt und war für die jüdischen Patienten zuständig." Wie Tuchmann nach dem Krieg berichtete, habe er versucht, so viele Patienten wie möglich vor der "Evakuierung" zu bewahren.
   Lola verließ im April vorzeitig das Spital. Es ist möglich, daß sie sich doch einer Unterleibsoperation unterzogen hat. Ihr ehemaliger Lebensgefährte Franz Paul erinnert sich, sie habe ihm von einer solchen erzählt. Anschließend wohnte Lola Stärk eine Weile in einer Pension im 9. Bezirk. Franz Paul war zu diesem Zeitpunkt ein beliebter gutverdienender Autor, der in Theaterstücken, Kabarett und Rundfunk das System auch zu kritisieren wagte. Seine junge Frau Maria brachte Lola "irgendwann Ende 1941 oder Anfang 1942" in der Südsteiermark unter, im Gebiet des Sausal bei Leibnitz. Die Pauls überließen ihr eine ihrer beiden Lebensmittelkarten. Andere Freunde verschafften Lola falsche Dokumente. Valerie erinnert sich, daß sie Lolas "neuen" Namen, Maria Sonnberg, und ihre steirische Adresse mit Bleistift an der Innenseite des Küchenkastens notiert hatte, um sie jederzeit ausradieren zu können. Einige Male habe Lola Stärk in diesen Jahren auch bei ihr Unterschlupf gesucht, erzählt Valerie Kittel. Aus einem Brief an Toni geht hervor, daß Lola jedenfalls am 26. Jänner 1942 bei Vally übernachtete.
   Valerie berichtet: "Der Bauer, bei dem sie dann war, hat vielleicht geahnt, aber nicht gewußt, wer sie ist. Ihre Freunde haben ihr die Lebensmittelkarte nachgeschickt. Nachdem das Wochen und Monate so gegangen ist, ist das aufgefallen. Dort bei der Gendarmerie war aber ein Mann, der ihr die Kontrolle vom Gemeindeamt angekündigt hat. Sie hat das immer im voraus gewußt, sich in den Zug gesetzt und ist nach Wien gefahren. Nach der kritischen Zeit ist sie wieder hinuntergefahren. Das war einige Male der Fall. Und da ist sie öfter gekommen und hat bei mir gelebt. Das war natürlich eine sehr brenzlige Angelegenheit, denn damals gab es ja schon Luftschutzalarm, man mußte in den Keller gehen, was Lola natürlich nicht durfte. Außerdem hat sie mir - sie war doch in einer verzweifelten Lage, sie hat ja nicht gewußt, wie lange das dauern wird, man hat ja gedacht, eines Tages wird man sie doch erwischen -, sie hat mir jedenfalls ein kleines Schachterl gezeigt und gesagt: 'Schau, da hab ich Zyankali. Wenn sie mich einmal schnappen, kann ich das schlucken und brauch nicht zu erleben, wie sie mich verschicken.' Da hab ich natürlich befürchtet, daß sie einmal einen Verzweiflungsanfall kriegen wird, wenn sie allein zu Haus ist und das Zynkali schlucken ... Was dann?"
   Maria Paul erzählt, wie sie Lola Stärk in die Steiermark zu ihren Eltern begleitete: "Ich hab zu ihnen gesagt, sie habe Radio gehört, Feindsender, denn daß sie eine Jüdin ist, konnte ich den Eltern nicht erzählen." Anschließend sei Lola zirka ein halbes Jahr bei den Großeltern in St. Marein bei Knittelfeld untergekommen. Als es "Munkeleien" gegeben habe, habe man Lola "oben am Berg" eingemietet, "natürlich gegen Geld" (,das die Pauls schickten). Franz meint, Lola habe dort auch selbst verdient, indem sie die Wirtschaft führte. Auf jeden Fall sang sie im Kirchenchor und bewirtete den Freund mit "herrlichen Cremeschnitten", als er sie "dort oben" einmal besuchte. "Sie war sehr unglücklich, nur war sie intelligent genug, um einzusehen, daß das Versteck am Land ihre einzige Überlebenschance war", erinnert sich Franz Paul.
   Nach dem Krieg brach der Kontakt Paul - Stärk ab. Frau Kittel jedoch pflegte die Freundschaft weiter. Sie besitzt noch einige Briefe im Zusammenhang mit Lola Stärk, die durch Vermittlung von Bekannten eine Stelle beim Konservatorium der Stadt Wien bekam. Im Herbst 1946 erhielt Valerie ein Schreiben des Konservatoriums, datiert 6. Oktober 1946, in dem es hieß, daß "Lola Berndt-Stärk vor nicht ganz drei Wochen in die Landes Heil- und Pflegeanstalt am Steinhof gebracht" worden sei. Die Jahre der unaufhörlichen Angst hatten Lolas Nervenkraft zerstört.
   In Vallys Mappen liegt auch ein kurzer Brief Lolas vom 2. 1. 1947: "Ihren 1. Brief s. Neujahrswünschen habe ich leider erst heute erhalten und bitte Sie daraufhin, so bald als möglich, vielleicht schon Sonntag, 5. 1., 2 - 5 Uhr, zu kommen, da sich in den nächsten Tagen so manches entscheiden muß. Fühle mich in jetziger Umgebung relativ wohl, kein Vergleich zu früher, wenn auch unnötiges Verkleiden unerwünscht wäre. Alles Gute erwidere ich doppelt und dreifach. Immer Ihre Lola."
   Dann folgt nur mehr eine Todesanzeige vom 26. März 1948: "... im Alter von 61 Jahren nach kurzer schwerer Krankheit vom Leben abberufen..."

Wie es Hans Reich, dessen Schicksal Lola nicht teilen wollte, in Opole in Polen ergangen sein mag, wo er im März 1942 starb, ist aus einem Brief zu ermessen, der im Buch "Widerstand und Verfolgung in Wien" abgedruckt ist. Ein oder eine J. E. schrieb am 18. Februar 1941:
   "... Endlich hatten wir unser Ziel Opole. Daß es solche gottverlassenen Dörfer überhaupt gibt, das wußte ich nicht, und Ihr könnt Euch überhaupt kein Bild machen von dem Elend. ... Die Bevölkerung ist arm, wie man es sich überhaupt nicht vorstellen kann." Er (oder sie) und die Mutter seien bei solch armen Juden einquartiert. 80 Prozent der Deportierten schliefen aber in der Synagoge auf Stroh und seien ohne Quartier. Lebensmittel seien entsetzlich teuer, Arbeitsmöglichkeiten gebe es nicht. "Ich kann euch sagen, es wäre besser gewesen, man hätte uns alle in Wien an die Wand gestellt und erschossen. Es wäre ein schöner Tod gewesen, wir müssen elender sterben..."

"Fuchtbare Sachen" habe Grete Holzfeind von ihrem Urlaubsaufenthalt in Drohobycz erzählt, schreibt Vally am 9.September 1942. Bis März war Ernst Holzfeind in Glowno stationiert gewesen, dann hatte er sich nach Wien zurückberufen lassen, weil er fürchtete, zur Waffen-SS eingezogen zu werden. Man beauftragte ihn jedoch, wieder eine deutsche Schule aufzubauen, diesmal in jenem Teil Galiziens, der von Rußland erobert worden war.
Bei seiner Ankunft in Drohobycz seien die Juden noch nicht im Getto gewesen, aber während seines Aufenthaltes habe man begonnen, sie nach Warschau oder in andere größere Gettos zu transportieren.
   "Ich habe damals schon gehört, daß man im ehemaligen Galizien die Juden zusammengefangen und sie in Waggons hineingestopft und dann in diesen Waggons vergast hat," sagt Ernst Holzfeind. "Im Sommer 1942 war der Urlaub gesperrt, sodaß meine Frau zu mir gekommen ist."
   Nun übernimmt Grete das Wort:"Beim Frühstück saß dort ein Standartenführer. Er sagte: 'Das ist was für einen alten Krieger, eine fesche junge Wienerin.' Ich: 'Ich bin hier, um meinen Mann zu besuchen, und was ist Ihre Agende, Herr Standartenführer?' Er: ' Wenn es Sie interessiert, kommen Sie um 11 Uhr auf den Hauptplatz.' Dort standen Häuser mit Strohdach, die eher in den Busch gepasst hätten. Und auf einmal fangen die zum Schießen an, die SS oder wer das war, auf die armen Juden. Die sind zusammengetrieben worden in diesen schrecklichen Häusern und die haben den Kopf herausgestreckt bei den Öffnungen und wollten fliehen, und da haben sie jeden einzelnen Kopf abgeschossen, wie im Prater bei uns. Dann war da so eine Anhöhe, da haben sie auch Juden zusammengetrieben und hinaufgeschossen mit den MGs. Sagte der Standartenführer zu mir: 'Jetzt wissen Sie, was meine Agende ist, junge Frau!'
   Da gab es auch viele Lastautos, wo Menschen drauf waren. Ich fragte: ' Was geschieht dort?' Er: 'Na, sind Sie aus Wien? Haben Sie noch nie Wanzen gehabt? Die werden in Lemberg zusammengetrieben, und dann werden sie vergast, so wie man mit Wanzen umgeht.'
   Ich war mehr als erschüttert, das kann ich Ihnen sagen."
   Auf der Hinfahrt nach Drohobycz sei sie in Krakau umgestiegen. "Da sind auf dem Bahnhof Menschen aufgehängt gewesen, die Zunge ist ihnen rausgehängt, braun gebräunt, weil sie schon so lange dort gehängt sind, nicht einer, eine ganze Galerie. Ich bin so erschrocken, am liebsten hätte ich mich umgedreht und wäre heimgefahren, aber mein Mann hat auf mich gewartet. Zu einem, der Deutsch konnte, habe ich gesagt: ' Was ist denn das?' Sagt er: 'Die hängen da für einen Zungenkuß, da können Sie sich dran beteiligen!' "
   Ernst Holzfeind fügt hinzu: "Das waren welche, die im Verdacht waren, Widerstandskämpfer zu sein, das hat man zur Abschreckung gemacht." Grete: "Und mein Mann, dem habe ich das erzählt. Hat er gesagt: 'Komisch, die ganze Zeit war nichts, und du kommst, und die Bartholomäusnächte beginnen.' Ich hab ein Pech gehabt in meinem kurzen Urlaub."

Fast unleserlich ist die zittrige Schrift, mit der Samuel Spindler am 26. Oktober 1941 aus Bregenz an Valerie Kittel schrieb: "Die Kleiderkarte von Herbert dankend erhalte. Nachdem Fanni am Freitag d. 25. d. verhaftet worden ist, danke ich Ihnen für Ihre Mühe..."
   Herbert war der Sohn von Fanny Vobrs Schwester Emilie Pruner, mit der sich ab 1941 ein Briefwechsel anbahnte. Etwa ein Jahr später gelangten knappe Zeilen von Millie auf einer schwarz umrandeten Karte nach Wien: "Unser lieber Papa ist am 11. 11. gestorben. Das Leid, das er zu tragen hatte, ist ihm zuviel geworden, er hat seinem Leben selbst ein Ende gemacht."
   Im Brief vom 25. November erklärt sie Vally: "Papa hätte am 11. 11. Bregenz für immer verlassen müssen. Er schrieb in seinem Abschiedsbrief: 'Sterben ist leichter.' Die Sorge um Fanny und seine Sorgen noch dazu, das wurde ihm zuviel." Die Familie Fannys und Vally Kittel mußten bis Mai 1943 warten, ehe über Franziska Vobr, 1910 geboren, Mischling 2. Grades, evangelisch, das Urteil wegen "Vorbereitung zum Hochverrat, begangen durch kommunistische Mundpropaganda, teilweise in Tateinheit mit Wehrkraftzersetzung" gefällt wurde. Die Strafe betrug 5 Jahre Zuchthaus und 5 Jahre Ehrverlust: Im weitschweifigen Urteilsspruch erfährt man, daß sie dem Verein "Freie Schule Kinderfreunde", später der Sozialistischen Arbeiterjugend angehört habe, in welcher sie mehrere Jahre als Führerin der Mädchenorganisation von Vorarlberg tätig gewesen sei. Bis 1934 sei sie Mitglied der Sozialistischen Partei gewesen und habe nachher als Kommunistin gegolten. Im August 1937 sei sie wegen Beteiligung am Menschenschmuggel nach "Rotspanien" festgenommen und zu einer dreimonatigen Polizeistrafe verurteilt worden. Zwischen November 1938 und Oktober 1940 sei sie in der Konservenfabrik Lochau angestellt gewesen. Auf der Fahrt zur Arbeitsstätte sei sie häufig mit der im gleichen Betrieb beschäftigten Köchin Amalia Gmeiner zusammengekommen. Diese habe aus Fannys abfälligen Äußerungen, Stellungnahmen gegen den Krieg und der Meinung, nur Hitler habe den Krieg herbeigeführt, die kommunistische Einstellung der Verurteilten gefolgert. Über ihre erlittene Abstrafung habe Fanny erklärt, daß sie sich gar nichts daraus mache, sodaß Amalia Gmeiner den Eindruck erhalten habe, Fanny Vobr sei stolz darauf.
   Ab Ende 1940 sei Fanny dann bei der Baufirma Hinteregger in Bregenz Vorkloster tätig gewesen. Auch dort habe sie ihre "staatsgegnerischen und hetzerischen Bemerkungen" fortgesetzt. Ihrem Betriebsführer Friedrich Lang habe sie wiederholt von Rußland vorgeschwärmt. Weiters habe sie sich am 3. Oktober 1941 geweigert, an einem Gemeinschaftsempfang der Führerrede im Radio anläßlich der Eröffnung des Winterhilfswerks teilzunehmen, und zwar mit dem Argument, sie könne den Führer nicht hören. Sie habe versucht, auch einen Kanzleigehilfen davon abzuhalten. Außerdem habe sie erklärt, daß die Hitlerjugend nichts tauge. Anfang Oktober habe sie eine gemeinsam mit den Kriegskameraden gesehene Wochenschau über den Rußlandfeldzug bekrittelt. Sie fände es außerdem traurig, solle sie gesagt haben, daß die besten Männer fielen, zumal kein höheres Ziel dahinter stecke. Deutschland werde die bisher besetzten Ostgebiete nicht auf die Dauer halten können, die Russen würden sich nie ergeben. Der Krieg koste zuviel Blut.
   Diese und andere Bemerkungen führten Fanny Vobr, so Valerie Kittel, schließlich ins Konzentrationslager Ravensbrück.
   Valerie Kittel: "Dort war sie bis zum Jahr 1945. Nach 45 hat mich einmal die Frauenvorsitzende der SPÖ, Rosa Jochmann, in die Löwelstraße ins Parteisekretariat gerufen und mir Grüße von Fanny ausgerichtet, mit der sie gemeinsam im KZ war."
   Vally besitzt auch noch die Zeilen Rosa Jochmanns, die diesem Treffen vorausgingen.
   Fanny Vobr kehrte nicht mehr nach Österreich zurück. Sie arbeitete in der DDR und lebt heute in Berlin. Am 6. April 1974 schrieb Fanny an Vally Kittel: "Bei meinen Erinnerungen an die Vergangenheit liegt immer noch Dein Brief, den Du mir seinerzeit ins Gefängnis schriebst. Du hast mir damals geschrieben, daß sich kein Mensch einsam und verlassen zu fühlen braucht, der seine Heimat im Herzen trägt. Viele Frauen haben diese Worte gelesen und als Trost aufgenommen. Dafür kann ich Dir erst jetzt danken."
   Der Briefwechsel Fanny - Valerie Kittel brach bald wieder ab. Auch auf einen Brief, in dem ich Fanny Vobr um Auskünfte bat, bekam ich keine Antwort. Ihre Schwester Emilie Pruner teilte mir im Oktober 1986 mit: "Auch wir erfuhren erst durch eine Nachbarin meiner Schwester, daß Fanny in eine Nervenklinik gebracht werden mußte. Fanny hat durch ihre jahrelange Haft ihre Gesundheit und Nervenkraft total eingebüßt."

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