Ruth Linhart | Japanologie | Texte


Das Denkmal Maria Theresias vor dem Kunsthistorischen Museum war für ihn das "Standbild irgendeiner Frau". Die Büste Luegers am Cobenzl "die irgendeines Mannes". Von Menschen Geschaffenes interessierte ihn kaum. Mokichi Saito, in Japan berühmter Lyriker (Photo), verbrachte 1922/23 anderthalb Studienjahre am Neurologischen Institut der Universität Wien.

In Wien hält sich derzeit die japanische Literaturprofessorin Yasuko Imai auf, um über die Gedichtsammlung; die von jenem Aufenthalt zeugt, zu forschen.

Ruth Linhart sprach für die AZ mit Imai Yasuko über Saito Mokichi
Saito Mokichi

Über Wien nur Triviales

Mehr als 600 Gedichte umfaßt der schmale Band "In der Ferne". Darin können wir den Dichter von seiner Ankunft in Wien im Jänner 1922 bis zu seiner Übersiedlung nach München im Juli des folgenden Jahres begleiten. Doch wer sich hier ein lyrisches Tagebuch erwartet, das Emotionen positiver oder negativer Art gegenüber dem Gastland spiegelt, der findet sich enttäuscht. Auf dem weißen Papier haften zum Großteil in leidenschaftslose Kurzverse gebannte Trivialitäten. Professor Yasuko Imai, die zu Hause an einer Frauenuniversität unterrichtet und sich mit selbsterspartem Geld und gegen den Widerstand der Kollegen den Aufenthalt in Wien erkämpfte, fühlt ebenfalls diese Diskrepanz: Wie vermochte ein Mensch, von dem man glaubt, er sei gewöhnt, eigene Gefühle in poetischen Ausdruck zu kleiden, so wenig Beeindruckendes über diese Stadt zu sagen?

"Ich habe deutsche Städte, italienische Städte gesehen. Aber für mich - das ist natürlich rein subjektiv - war Wien mit seinen traditionsreichen Gebäuden und kulturellen Schätzen der Höhepunkt. Wie konnten diese an dem Dichter so vorübergehen?" fragt sich die Japanerin.

Was ist mit all den architektonischen Prachtbauten Wiens, der Ringstraße, den Schlössern, Palais und Kirchen? Nachdem er zu Weihnachten im Stephansdom die Christmette hörte, tröpfelte der magere dichterische Ausfluß:

"Inmitten der Menge, die zum Stephansdom strömte,
lauschte ich Kirchenmusik.
Ach dieser Abend!"

In ganz der gleichen Art und Weise schreibt er zum Beispiel auch über das Margaretenbad:

"Im Margaretenbad erwärmte ich mich.
Nach zwei Monaten
wieder im Bad."

"Belvedere erwähnt er gar nicht, von Schönbrunn nur den Tiergarten", bedauert Yasuko Imai. Wie sehr man sucht, es gibt kaum ein Echo auf Wien als traditionsdurchatmetes Zentrum eines gerade zusammengebrochenen Kaiserreiches. Schenkte ihm wenigstens die Musikstadt Wien Erlebnisse, Wien, das Mekka der japanischen Musikbegeisterten?

"Nein", antwortet Yasuko Imai, "seine Kinder haben bestätigt, daß er richtiggehend unmusikalisch war." Das einzige Gedicht, das auf einen Opernbesuch reagiert, ist frustrierend:

"In Paris hörte ich sie schon einmal, diese Oper.
Heute abend zum zweitenmal.
Ohne Langeweile!"

Nun gut, nicht jeder Mensch ist ein Musikfreund. Von Yasuko Imai erfährt man, daß er Malerei besonders schätzte und häufig Wiener Kunstgalerien frequentierte. Literatur erscheint in seiner Gedichtsammlung an zwei Stellen; einmal eine Serie von lyrischen Eindrücken am Grab von Nikolaus Lenau in Weidling, ein andermal Verse aus Anlaß des 60. Geburtstages von Schnitzler, die immerhin eine gewisse Bewunderung erkennen lassen:

"Ein Dichter der Jugend schien er mir stets.
Doch nun ein großer Meister.
Unverrückbar:"

Yasuko Imai versucht Saito zu verteidigen: "Er liebte vor allem die Natur." Seine Dichtung kreist, so kann man lesen, um "die in der Natur gespiegelte Einsamkeit".

Er, der an Wochentagen von morgens bis abends über seine Doktorarbeit gebeugt saß, verbrachte die Wochenenden mit Spaziergängen in der Umgebung Wiens. Aber auch hier ist alles, was man seinen Gedichten entnimmt, nur der blasse Widerschein von Müdigkeit und Heimweh:

"Wenn der Föhrenwind an meine Ohren dringt,
verlassen mein Herz, aus der Ferne gekommen..."

Dies schreibt er in Mödling an einem Maientag: Und endlich - Gott sei Dank - ein Lichtstrahl für den auf Reaktionen auf sein Land hungrigen Österreicher - stößt man vor seiner Abreise aus Österreich, wieder in Mödling, auf leises Bedauern:

"Wenn ich denke, daß ich nur mehr heute
die grünen Wiesen von Mödling sehe,
fällt es mir schwer, ein trauriges Herz zu vermeiden."

"Er war kein Stadtmensch", nimmt ihn Yasuko Imai weiter in Schutz. "Eigentlich ein Bauernsohn aus dem Norden Japans, adoptierte ihn ein vermögender Arzt in Tokio, ließ ihn studieren und verheiratete ihn mit seiner Tochter; übrigens eine wenig glückliche Ehe. Schon 1913 wurde er mit einer Gedichtsammlung berühmt. Aber als Mediziner ließ er zu wünschen übrig. Darum schickte ihn sein Vater zuerst nach Nagasaki an ein Krankenhaus, dann schließlich nach Wien.

Saito Mokichi

Auf den Spuren Saitos: Die japanische Literaturprofessorin Yasuko Imai

Jetzt war er schon vierzig Jahre alt, und, wie er selbst wußte, war es höchste Zeit, sein Studium abzuschließen. Vielleicht liegt hier ein Schlüssel zu seiner mangelnden Reaktion auf die fremde Umgebung. Vielleicht war er so vertieft in sein ungeliebtes Studium, daß alles andere an ihm vorbeiging, ohne Spuren zu hinterlassen. Auch seine mangelnden Deutschkenntnisse - wohl las und schrieb er die Sprache, doch er beherrschte nicht das gesprochene Wort - verbannten ihn sicher in eine gewisse Isolation, die sich auf seine lyrische Kreativität ausgewirkt haben mag. Ein weiterer Grund für die geringe Aussagekraft seiner Werke ist wahrscheinlich außerdem in der literarischen Form zu suchen, als deren Meister er gilt: Er schrieb Tanka, kleine, einunddreißig Silben lange Gebilde, die sich meist auf eine geringe Anzahl von Themen beschränken. Noch dazu gehörte er einer literarischen Schule an, die leidenschaftslose Wiedergabe des Erlebten als ihre Maxime aufgestellt hatte.

Leidenschaftslos, ohne Parteinahme, beschrieb er auch die politischen Ereignisse, deren Augenzeuge er wurde. Wien war damals eine von politischen Unruhen durchschüttelte Stadt, riesige Demonstrationen keine Seltenheit.

So schreibt Salto zum Beispiel:

"Die Augen gebannt
von einem Demonstrationszug,
120.000 Arbeiter zusammengeströmt."

"Da, in einer Gruppe,
die singend dahermarschiert,
eine junge Schaffnerin, die ich kenne."

Aus seinen Gedichten ließe sich nicht erkennen, in welchem politischen Lager er stand. Und Yasuko Imai meint, Tagespolitik habe ihn nicht interessiert.

"War in dem jüdischen Heiligtum,
wo sie alle möglichen Hüte tragen
ohne sie abzunehmen."

Dies ist der lyrische Niederschlag eines Besuches der Synagoge in der Müllergasse während einer Epoche, da, wie er selbst schreibt, "aggressiver Antisemitismus" die Stadt durchdrang. Ein Gedicht von ihm lautet zum Beispiel:

"Sie wollen die Juden vertreiben.
Diese Bewegung beherrscht die Stadt.
Fahnen gehißt mit dem Hakenkreuz."

Dennoch schien ihm vor allem nennenswert, daß die Juden in der Synagoge (im Gegensatz zu den Katholiken in der Kirche) den Hut am Kopf behalten! Einmal erzählt ein Tanka, er habe die Zeitung "Rote Fahne" erstanden, ein andermal von einer Diskussion über den Zionismus. Er war also politisch doch nicht ganz uninteressiert.

Yasuko Imai charakterisiert ihn nach einigem Zögern als einen Gegner der Sozialdemokratie. Man erfährt von ihr, daß er sogar den latenten Antisemitismus jener Tage übernahm. Ja, seine jüdische Hausfrau, die später im Konzentrationslager Theresienstadt endete, und seine jüdischen Kollegen am Universitätsinstitut hätten ihn so weit gestört, daß er es vorgezogen habe, nach München zu ziehen, weiß sie aus Briefen. Noch einige Kostproben von des Dichters Meinung über sein Gastland aus Briefen und Essays bringen Klagen über den zu geringen Patriotismus der Österreicher zutage. Saito entschuldigte dies mit dem verlorenen Krieg und Österreichs Reduzierung auf einen Kleinstaat. Als die Österreicher jedoch anläßlich des Todes von Kaiser Karl im Jahre 1922 ohne nennenswerte Trauer reagierten, äußerte er höchste Befremdung.

Salto übersiedelte schließlich am 19. Juli 1923 ins "patriotische" München, wo er Zeuge des Novemberputsches von Adolf Hitler wurde. Wo er aber auch solche Gedichte schreiben mußte:

"An Ausländer wird keine Ware abgegeben."
Gebannt starre ich
auf dieses Schild.

Erlebnisse dieser Art ließen ihm Österreich im nachhinein in verklärtem Licht erscheinen, resümiert Professor Imai.

In Wien blieben Abschiedsverse von Saito zurück:

"Die Sprache verschlug es mir,
als ich dich an der Straßenkreuzung traf
und du Japanisch sprachst."
(Übersetzung A. Slawik.)

Diese gefühlsarmen Zeilen widmete er dem einzigen österreichischen Freund jener Tage, dem einzigen heute noch lebenden Zeugen von Saitos Besuch in Wien, nämlich dem damaligen Studenten und jetzigen emeritierten Professor Dr. Alexander Slawik. Vor dessen geistigen Augen steht die Gestalt des Dichters, wie er ihn vor 55 Jahren gesehen hat: "Mittelgroß gebaut, ziemlich breitschultrig, etwas mollig. über der breiten Stirn eine kleine Glatze. Brillen trug er, einen weißen Stehkragen, eine Weste. Der Gang leicht und schwingend. Mir schien er lebhaft und heiter."

Schade daß dieser sonst so empfindungsstarke japanische Dichter Mokichi Saito die Gelegenheit versäumte, seinen Landsleuten Wien und damit ein Stück österreichische Geschichte in lebhafteren Farben zu malen. Und schade, daß er uns dadurch jede Initiative nahm, sein Wiener Tagebuch ins Deutsche zu übertragen.


Ruth Linhart


Dieser Artikel wurde publiziert in der AZ Beilage vom 8. Oktober 1977 S. 3 und 4 und am 14. 2. 2006 ins Internet gestellt. In einem zwölf Jahre später geschriebenen Artikel beurteilte ich Saitô Mokichi nicht mehr so streng: Stadt unendlich langer Küsse. In der Zwischenzeit hat sich auch ein Übersetzer für die Wiener Essays gefunden! Siehe die Literaturhinweise.

Literatur:

Peter Pantzer: Habilitationsschrift zu ausgewählten Bereichen der Literatur und Geschichte Japans, "Fliegende österreichische Kronen. Die Essays des japanischen Dichter Saitô Mokichi über seinen Aufenthalt in Österreich, Wien 1985;

Barbara Yoshida-Krafft (Hg.): Blüten im Wind, Essays und Skizzen der japanischen Gegenwart, Edition Fuhrmann, Tübingen 1981;

Alexander Slawik: Der Dichter Mokichi Saitô in Österreich, in: Festschrift, 10 Jahre österreichisch Japanische Gesellschaft, Wien 1983.

Saitô Mokichi: Drei Deutschland-Essays, Acht Österreich-Essays, Aus dem Japanischen von Peter Pantzer. In: Hefte für Ostasiatische Literatur Nr. 36, Mai 2004, S. 9-56.


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