Ruth Linhart | Frauen der ersten Stunde | Texte


Valerie K. (1905)

Eine Frau macht Karriere

V. Kittel in La Brevier

Mit den österreichischen Gewerkschafterinnen beim Int. Frauenseminar in La Brevier 1953


»Die Verwaltung aufzubauen, das war das Allerschwierigste«, schildert Valerie K. in einem Satz jene Aufgabe, die ihr in den Nachkriegsjahren zum Lebensmittelpunkt wurde.
Wenige Tage vor ihrer Übersiedlung in ein Pensionistenheim stellt sich die 80jährige für ein Interview zur Verfügung, inmitten des Aufbruchs aus einer Wohnung, in der sie den Großteil ihres Lebens verbracht hatte, einer Wohnung, die angefüllt von Zeitzeugnissen in Mappen, Kästen und Regalen ist. Zwischen Bücherrücken fällt ein gerahmtes Farbphoto auf. Die abgebildeten jungen Frauen sind ihre Nichten. Valerie K. hat keine Kinder. Und ihr Ehemann starb 1947 auf tragische Weise, nachdem er die Schrecken des Krieges als Soldat überstanden hatte.

»April 1945, welche Erinnerungen verbinden Sie damit?«

» 1945 im April hatte sich die Arbeit überall aufgehört. Die russischen Truppen hatten Budapest eingenommen und näherten sich Wien. Fast alle Leute sind zu Hause geblieben. Man hatte ja keine Ahnung, was sich abspielen wird. Auch ich wagte mich nicht mehr auf den langen Weg von der Linzer Straße, wo ich wohnte, zu meinem Arbeitsplatz in der Wiener Gebietskrankenkasse im ersten Bezirk. Das Kriegsende erlebte ich im Keller des Wohnhauses meiner Eltern, eines Gemeindebaus in der Nähe
Die Russen kamen, anders als erwartet, vom Westen, vom Tiergarten her die Linzer Straße herein. Auf einmal standen in der Nacht russische Soldaten bei uns im Keller. Am nächsten Vormittag sind sie wiedergekommen. Ich bemühte mich, mit ihnen russisch zu reden, ich hab russisch gelernt. Wir sind in die Wohnung hinaufgegangen, die Mutter hat ihnen etwas aufgewartet, aber sie waren ganz unzugänglich, haben die Laden aufgerissen, herausgenommen, was ihnen gefallen hat, uns die Uhren weggenommen. Weiter haben sie uns nichts getan.
Am Abend haben wir uns dann verkleidet. Ich war damals auch noch eine junge Frau. Ein paar Tage hatten wir große Angst. Meine Eltern waren beide zu Hause. Mein Vater hatte als Metallarbeiter in einer nahen Fabrik gearbeitet, aber dorthin konnte er überhaupt nicht mehr zurück, denn die Besatzung hat bald alle Maschinen abtransportiert. Was sie nicht weggebracht hat, wurde zum Teil demoliert.«

» Waren Sie glücklich über das Kriegsende?«

»Zunächst hatte man eine gewisse Hoffnung. Man hat gedacht, jetzt ist doch einmal ein Ende des Schreckens, aber dann schwirrten soviele Gerüchte unter den Leuten, die ganze Stadt war voll davon. Man hat befürchtet, daß die Russen uns zu einem Agrarstaat machen wollen, ja, die Industrie beseitigen. Erst im Laufe der Monate und Jahre hat sich erwiesen, daß dem nicht so ist.
Mein Mann war schon seit Anfang des Krieges eingerückt, zuerst in Frankreich; im Sommer 1941 wurde er nach Rußland geschickt. Er wurde auch schwer verwundet. Im April 1945 hatte ich keine Ahnung, wo er sich aufhält. Später erzählte er mir, daß er in Znaim war. Die Offiziere hatten sich alle aus dem Staub gemacht. Als die Soldaten hörten, daß im Westen die Amerikaner kommen, haben sie sich zu Fuß nach dem Westen bis Oberösterreich abgesetzt. Dann konnte mein Mann aber auch noch lange nicht nach Wien, weil die Demarkationslinie an der Enns dazwischen lag. Er schrieb aber wenigstens, sodaß ich wußte, wie es ihm geht. Direkt in Kriegsgefangenschaft war er nicht. Vorerst blieben die Soldaten wohl beisammen, bis sie von den Amerikanern einen Schein bekamen, daß sie frei sind. Er hätte vielleicht früher heimkommen können, aber er traute sich nicht. In der amerikanischen Zone wußte man ja nicht, was in der russischen vor sich geht.«

»Sie waren in der Zwischenzeit in Wien bereits aktiv?«

»Ja, ich mußte sehr aktiv sein. Damals war ja die schwierigste und die dringendste und die meiste Arbeit zu tun. Gleich nach Kriegsende, ganz spontan, fanden sich an meiner Arbeitsstelle, der Wiener Gebietskrankenkasse, die »Männer der ersten Stunde« ein, Leute, wie der Abgeordnete Franz Heigelmayer oder Robert Uhlir; viele von ihnen hatten früher hier gearbeitet und waren dann entlassen oder eingesperrt worden. Alle, die am ersten Tag nach Kriegsende in Wien waren, haben sich dort versammelt und bildeten einen Arbeiterrat. Dazu riefen sie auch mich. Ich war bei den illegalen Sozialisten, wir haben uns alle schon gekannt, seit vor 1934, wir haben die ganze Zeit heimlich Veranstaltungen organisiert und untereinander Informationen ausgetauscht. Es war eine Gruppe, die wußte: >Wenn es soweit ist, müssen wir etwas Neues aufbauen.Planen konnte man das nicht, denn niemand hatte eine Ahnung, was sich und wie es sich zu Kriegsende abspielen würde. Es hätte ja auch die ganze Stadt zerstört sein können wie Budapest.«

» Welche Funktionen hatten Sie in der Wiener Gebietskrankenkasse?«

»Ich absolvierte die Handelsschule, war dann Sekretärin in einer Teppichfirma und bewarb mich 1928 über eine Annonce in der Arbeiterzeitung bei der damaligen Krankenkasse der Handelsangestellten. Ursprünglich gab es viele kleine Krankenkassen, auch mehrere Angestelltenkassen. Noch vor Dollfuß waren bereits Bestrebungen für einen Zusammenschluß im Gange. Doch man vermochte sich nicht zu einigen, denn wenn es nur mehr eine Krankenkasse gab, brauchte man doch nicht sechs Direktoren! Im Februar 1934 wurden alle sozialistischen Verwaltungsdirektoren verhaftet, und wir bekamen einen Regierungskommissär.
Wir, die Krankenkasse der kaufmännischen Angestellten, sind als erste mit der christlichsozialen Wahlkrankenkasse verbunden worden. Im Jahr 1937 wurden dann die restlichen Angestelltenkassen vereinigt und wir zogen in die Mariahilfer Straße. Als die Nationalsozialisten kamen, war wieder eine große Revolution. Man vereinigte die Angestelltenkrankenkasse mit den Arbeitern, die in der Wipplingerstraße zu Hause waren. Dorthin wurde ich im November 1939, wie ich annahm strafweise, versetzt.
Wir hatten nämlich in unserer Krankenkasse besonders viel jüdische Angestellte, denn es gab ja auch im Handel viele jüdische Arbeitnehmer. Man hat uns daher auch "die jüdische Kasse" genannt. Ich war vom Anfang an im Direktionssekretariat und mußte die gesamten Personalagenden führen. Als dann 1938 die Nazis die Macht übernahmen, haben sie sofort mit einem Federstrich alle jüdischen Angestellten außer Dienst gestellt und in der Folge ohne irgendwelche Ansprüche fristlos entlassen. Diese Angestellten haben sich bemüht, ins Ausland zu emigrieren, aber zu diesem Zweck mußten sie eine Bestätigung vorlegen, daß sie in Österreich keine Steuerschulden haben. Um diese zu bekommen, mußten sie sich wiederum an ihre Dienststelle wenden, und dort saßen in der Personalabteilung die Nazis. Denn als erste wurde natürlich diese mit eigenen Leuten besetzt. Ich mußte in die Buchhaltung übersiedeln. Die jüdischen Kollegen haben sich in der Folge meistens an mich um Rat gewandt. Diese Kontakte waren jedoch verboten. Wir haben uns zwar hinter einen Vorhang gestellt, aber Spitzel waren überall, und so wurde ich zum neuen Direktor gerufen. Der gab mir den Rat, diese Zusammenkünfte zu unterlassen. Wenige Tage später mußte ich von einer Stunde auf die andere in die Wipplingerstraße.
Im April 1945 wiederum hat man die Nazis sofort aus der Krankenkasse eliminiert. Sie mußten aus den Akten ausgehoben, es mußte ihnen geschrieben werden, kurz, man brauchte jemand, der sich in der Personalabteilung auskannte, der wußte, wer ein PG, ein Parteigenosse, war. Dem bisherigen Abteilungsleiter traute man nicht zu, daß er im Sinne der neuen Verwaltung arbeiten wird, und so sagte man mir gleich am ersten Tag, daß ich die Leitung der Personalabteilung der Wiener Gebietskrankenkasse übernehmen muß.
Ich sollte den flüssigen Verwaltungsablauf des Betriebes wiederherstellen. Das wurde dadurch sehr erschwert, daß wir gerade in unserem Büro einen großen Bombentreffer gehabt hatten. Die Akten waren zum Teil kaputt, zum Teil verschüttet. Für Büromaschinen gab es keinen Strom, also mußte man alles mit der Hand schreiben. Die Leute warteten auf ihr Gehalt, aber niemand zahlte Beiträge, so konnten wir nur Akonto-Zahlungen überweisen, jedoch nicht über die Postsparkasse wie bisher üblich, weil es keine Postsparkasse mehr gab ...
Es fanden auch große personelle Umstellungen statt. Sehr viele Leute mußten neu aufgenommen werden; viele, die vorher diskriminiert worden waren, die keine Arbeit hatten und die sich über eine Verbindung an uns wandten. Andere waren geflüchtet, ins »Altreich«, oder wollten die Entwicklung der Lage abwarten und kamen gar nicht mehr in den Betrieb zurück.
Das alles hat sich jahrelang hingezogen. Neue Gesetze wurden beschlossen, und man mußte die Maßnahmen im nachhinein mit diesen Gesetzen in Einklang bringen.«

» Wie war das menschlich? Spürten Sie Genugtuung oder Mitleid gegenüber den ehemaligen Nationalsozialisten? War es peinlich, sie zu entlassen?«

»Das war ganz verschieden, je nachdem, um wen es sich handelte. Es gab Kollegen, die waren sehr nett und bereit, mitzuarbeiten, andere waren pikiert. Zum Teil war es natürlich peinlich. Meinem Chef, der lange Jahre mein Abteilungsleiter war, der mich 1939 mehr oder weniger angefordert hatte, dem mußte ich ganz einfach sagen: 'Sie gehen jetzt da von Ihrem Schreibtisch weg und ich setz mich her!' Das mußte man halt hinter sich bringen. Aber ich blieb dann unangefochten. Allerdings waren die meisten männlichen Angestellten im entsprechenden Alter 1945 noch eingerückt, an der Front, in Gefangenschaft und kamen erst im Laufe der nächsten Jahre zurück. Da waren natürlich viele, die fanden, sie hätten mehr Anspruch auf meine Position gehabt. Da wurde man auch angefeindet. Aber ich kann nicht sagen, daß es bei mir besonders arg war. «

»Engagierten Sie sich auch in der Politik oder in der Gewerkschaft?«

Ja, sehr. Ich wurde einige Male als Arbeiterkammerrat gewählt. Bei der Gewerkschaft der Privatangestellten war ich von der ersten Stunde an tätig. Viele, vielleicht 20 Jahre, war ich Vorsitzende der Frauenabteilung der Privatangestelltengewerkschaft. Gleichzeitig wurde ich, weil ich ja die Gewerkschafterinnen vor 1934, wie Käthe Leichter und Wilhelmine Moik noch gekannt hatte, sofort in den Österreichischen Gewerkschaftsbund in der Ebendorferstraße gerufen ... das heißt, der ÖGB wurde erst allmählich aufgebaut.
Es wurde auch gleich ein Frauenreferat gegründet, zuerst ohne Satzungen. Frau Moik wurde Vorsitzende, und ich war ihre Stellvertreterin. Das alles ist rasch gegangen, ohne besondere Wahlen, das wäre auch gar nicht möglich gewesen. Zuerst hat sich die Verwaltung organisiert, und dann kamen erst die Mitglieder.«

»Sie müssen ja ununterbrochen im Einsatz gewesen sein!«

»Das war wirklich der Fall. Wir hatten ununterbrochen Dienst und Sitzungen, auch am Samstag und am Sonntag. Aber man hat es nicht als arg empfunden. Ich war damals erst Anfang 40 und man hat viele Jahre darauf gewartet, aktiv werden zu dürfen. Jahrelang hat man das ja gar nicht mehr erhoffen können! Man war damals schon optimistisch, aber auch ängstlich, denn man wußte nicht, ob sich alles so normalisieren wird, wie es dann geschehen ist.«

»Für das Privatleben hatten Sie demnach wenig Zeit?«

»Das mußte ganz außer acht gelassen werden. Mein Mann kam zurück und hatte keine Arbeit. Vor dem Krieg war er Fotograf, aber diese Branche war jetzt nicht gefragt. Er wurde schließlich beim Jugendamt der Gemeinde Wien angestellt. Doch er hat sich immer beklagt, daß ich überhaupt nicht greifbar bin, nie da. Und immer hab ich ihn vertröstet: 'Aber das geht ja vorüber, das wird wieder anders werden, das ist halt der Anfang.' Ja, es gab schon Konflikte.
Im April 1947 ist er gestorben, bei seiner Arbeit. Er mußte Jugendheime besuchen. Es waren sehr viele Heime nötig, weil viele Kinder sehr arm, sehr unterernährt waren. Aus der Schweiz und aus anderen Ländern wurden Lebensmittel gespendet. In diesem Zusammenhang war er viel im Außendienst. Bei solch einer Rückfahrt nach Hause im Dienstauto, ein Chauffeur lenkte, zwei Fürsorgerinnen saßen im Fond, geriet das Auto ins Schleudern. Die drei anderen blieben völlig unverletzt, aber er war sofort tot. Er war noch nicht einmal 37! Danach habe ich erst recht viel Zeit gehabt

»Dachten Sie je an eine neue Beziehung?«

»Zum Wiederheiraten hätte ich gar keine Zeit gehabt. Ich hab mich mit aller Kraft in die Arbeit hineingestürzt.«

» Wünschten Sie sich Kinder?«

»Eine Zeitlang war ich bemüht, keine Kinder zu haben, dann war ich eine Zeitlang bemüht, welche zu haben, aber das ist eben nicht gelungen. Es war ja auch wenig Möglichkeit, weil mein Mann den ganzen Krieg hindurch an der Front war. 1947 war ich 42 Jahre alt, da hat sich diese Frage nicht mehr gestellt.«

» Wie hat damals die Frauenarbeit in der Gewerkschaft ausgesehen?«

» Wir haben uns für die Rechte der Frauen eingesetzt. Die Nazigesetze mußten aufgehoben werden; die Arbeitszeit, das Nachtarbeitsverbot für Frauen, Schichtarbeit, alle diese vielen sozialpolitischen Gesetze mußten beschlossen und vorher in unseren Gremien beraten werden. Ein sehr großes Problem, das uns jahrelang beschäftigt hat, war die Frage des Karenzurlaubes. Das war eine Idee, die früher gar nicht existierte. Vor allem die Frauensekretärin im ÖGB, die Rosa Weber, und die Wilhelmine Moik haben sich besonders für den Karenzurlaub eingesetzt. Das mußte alles mit der ÖVP und mit den Kommunisten ausgehandelt werden. Die waren damals sehr stark und angriffslustig, vor allem, solange sie noch eine Besatzungsmacht hinter sich hatten. Sie wurden aber schon vor 1955 immer schwächer. Wir Sozialisten waren alle bereits lange politisch geschult und stellten uns auf die Hinterfüße.«

»Man hört oft, daß Frauen von den heimkehrenden Männern aus dem Berufsleben gedrängt wurden.«

»Es ist alles an Arbeitskräften gebraucht worden, was da war. Es war ein sehr großer Arbeitskräftebedarf, wir hatten wirklich eine Aufbaukonjunktur. Viele Männer sind erst fünf, sechs Jahre nach Kriegsende aus Rußland heimgekommen. Man nahm viele Arbeitskräfte auf, Männer und Frauen. So viele Frauen waren übrigens gleich gar nicht zur Verfügung. Denn nicht alle konnten sofort in den Beruf eintreten. Sie hatten zu Hause Schwierigkeiten mit der Existenzsicherung. Viele waren ausgebombt und brauchten zuerst einmal ein Dach über dem Kopf.
Das Verlangen nach gewerkschaftlicher Arbeit war damals unter den Frauen sehr groß. Wir haben Wochenendseminare in großer Zahl gemacht, wir konnten gar nicht alle Frauen aufnehmen, die sich zu Schulungen meldeten.«

»Welche anderen politischen Erinnerungen haben Sie?«

»Der Staatsvertrag hat mir keinen besonderen Eindruck gemacht. Die Verhandlungen haben sich jahrelang hingezogen. Man hat gesagt: "Das wird man nie erleben!" Nun, und dann war er halt auf einmal da. Ich war im Mai 1955 mit meiner Schwester auf einer Reise in die Schweiz.«

»Hat sich für Sie die Wiedergutmachung und Entnazifizierung zufriedenstellend entwickelt?«

»Die Wiedergutmachung war eine meiner Hauptaufgaben! Nach 1945 haben sich alle unsere kaufmännischen Angestellten und sehr viele jüdische Ärzte, die emigriert waren, wieder gemeldet, schriftlich oder persönlich, und ihre Wiedergutmachungsansprüche gestellt. Das ist alles auf meinem Schreibtisch gelandet. Die Leute in der Direktion hatten von den früheren Sachen keine Ahnung, und am Anfang hat sich in Österreich auch niemand dafür interessiert.
Ich saß von 1928 bis 1938 einer Kollegin, einer Jüdin, am Schreibtisch gegenüber; sie war wirklich eine sehr bedeutende Persönlichkeit und hat mich - ich war ja ein Waserl - sozusagen in die Arbeit genommen und nach allen Seiten hin ausgebildet. Sie und andere haben mir nun aus Amerika mit Briefen zugesetzt: ' Es muß eine Wiedergutmachung geben!' Ich spielte sozusagen die Vermittlerin und mußte zum Hauptverband der Sozialversicherungsträger und zu den Abgeordneten hausieren gehen. Es hat noch jahrelang gedauert, bis es zur Wiedergutmachung kam. Am Anfang haben mich alle immer abgeschoben und dann, als doch die diesbezüglichen Gesetze beschlossen worden waren, hätte es auf einmal nicht mehr schnell genug gehen können.
Unter anderem wurde bestimmt, daß die Dienstzeit bis zu einem bestimmten Zeitpunkt angerechnet und die Leistungen nachbezahlt werden. Die Ministerien prüften die von uns erarbeiteten Unterlagen. Das hat ja Millionen Schilling ausgemacht.
Vielleicht war meine Bemühung in der Sache einer der Gründe, warum ich 1960 das Goldene Verdienstzeichen um die Republik Österreich erhalten habe.
Auf der einen Seite die Juden und auf der anderen Seite die Nazi, das waren schon komplizierte Sachen damals! Über die ehemaligen Nationalsozialisten haben wir endlos Listen machen müssen, über den Grad ihrer Belastung. Von den Leuten, die 1945 hinausgeworfen worden sind, wurden später nur mehr sehr wenige wieder eingestellt.«

»Hatten die aus der Emigration Zurückgekehrten mit Vorurteilen zu kämpfen?«

»Nein, diejenigen, die aus der Emigration zurückgekommen sind, haben es nicht schwer gehabt; zumindest vom Verwaltungsstandpunkt her waren sie rehabilitiert.«

»Sie haben in Ihrem Betrieb eine leitende Funktion innegehabt. Waren Sie als Frau eine Ausnahme?«

»In der Krankenkasse kann ich mich an keine Frau erinnern, die eine ähnliche Karriere gemacht hätte. Hier waren die Männer immer tonangebend. Frauen in leitenden Positionen gab es auch sonst wenig, aber viele in unteren und mittleren Bereichen.«

»Haben Sie sich bewußt für eine Karriere entschieden?«

»Ja, man mußte das schon wollen. Man mußte bereit sein, Aufgaben zu übernehmen. Kinder hatte ich keine und ich war seit jeher politisch interessiert. Ich wurde 1930 schon auf die Arbeiterhochschule geschickt, in den einzigen Jahrgang, der für Frauen veranstaltet wurde. Nachdem ich immer gerne und viel und vor allem Politisches gelesen hatte, hatte ich anderen viel an Wissen voraus. «

»Strebten Sie auch Spitzenpositionen an?«

»Nein, diesen Ehrgeiz hatte ich nicht, das wäre mir peinlich gewesen. Es war schon eine Zeit die Rede davon, nachdem Rosa Weber so plötzlich gestorben war. Ich habe immer nur in der Weise Ehrgeiz gehabt, daß ich alle Arbeit klaglos und ohne viel Aufheben über die Bühne bringe.
Ich übernahm auch sehr viel Gewerkschaftsarbeit, doch auf die Dauer war mir das zuviel. Und so haben wir uns bemüht, eine Frauensekretärin im Frauenreferat des ÖGB anzustellen. Ich fragte damals die Kollegin Metzker, ob sie Lust habe. Sie sagte zu, und dann haben wir den Kampf begonnen, daß die Gewerkschaft sie anstellt. Das war nicht leicht! Wenn sie nicht gewesen wäre, hätte man sich vielleicht auf mich kapriziert. Aber ich hatte das Gefühl, diese Stelle könnte ich nicht ausfüllen, so ganz im Vordergrund. Dazu hatte ich nicht genug Courage.«

R.L.

Publiziert in: Frauen der ersten Stunde, Europa-Verlag, Wien, 1985, S. 176-185

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