Ruth Linhart | Zeitgeschichte


Auf den Spuren meiner Großmutter

Ruth Linhart suchte in Moravská Třebová die Vergangenheit

Die Großmutter als junges MädchenMeine Großmutter hat mir oft von Mährisch-Trübau erzählt. Von dort hat sich ihr Vater auf den Weg gemacht, dessen Endstation Innsbruck war. Dieses Mährisch-Trübau war für mich immer ein Ort irgendwo im Land der versunkenen Monarchie. Erst vor kurzem kam ich darauf, daß dieser Ort nicht hinter den sieben Bergen, nicht jenseits der Breiwand vor dem Schlaraffenland liegt, sondern echt und auf der Landkarte eingezeichnet ist, allerdings hinter der tristen Realität von eins, zwei, drei, vier, fünf, ja mindestens fünf Schlagbäumen. Hinter einer Grenze, die Wachtürme überragen. Und vor der die Frau im Espresso nicht sagen kann, wie das Dorf jenseits mit dem mächtigen Schloß auf einem Felsen wohl heißt. Weiter als China, unvorstellbarer als der Mond, eigentlich ein Nichts, ein leerer Fleck, war Mährisch-Trübau in meiner Vorstellung. Aber auch Brünn oder Olmütz und schon gar der Schönhengst. Und nun haben wir den steilen, langgezogenen Bergrücken dieses Schönhengst bereits überquert; auf der kurvenreichen Straße sind uns mit Skiern beladene Autos begegnet. Wir sind in Mährisch Trübau angelangt, das schon lange Moravská Třebová heißt.

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Das Mährisch-Trübau aus den Erinnerungen meiner Großmutter ist eine von Sommersonne überflutete Kleinstadt inmitten grünen Hügellandes. Moravská Třebová ist eine vom Märzschnee verhängte Kleinstadt inmitten brauner, welliger Äcker. Am Horizont reihen sich kahle Laubbäume wie ein Kamm vor der glatten Linie des grauen Schönhengst. "Angesichts der Ödnis, die heute in der Stadt herrscht, fällt es freilich schwer, sich jene längstvergangenen frohen Tage, weitaus schwerer noch, sich die jüngst vergangene, nicht minder blühende und betriebsame Zeit vorzustellen", spielt die Reiseschriftstellerin Lillan Schacherl auf die große Vergangenheit der mährischen Kleinstadt an. Im 15. Jahrhundert ließen kunstsinnige Adelige das großzügige Marktplatzgeviert mit verzierten Erkern, spätgotisch gewölbten Vorhäusern und einem Reichtum an Ornamenten aus Wappen, Ranken, Vasen und Sinnsprüchen umrahmen. "Dort steht wohl heute kein Stein mehr auf dem anderen", vermutete meine Großmutter ehe wir, Enkelkinder und Tochter abreisten.


Moravská TYebová Aber Moravská Třebová ist keine Ödnis. Und es steht noch jeder Stein auf dem anderen. Der riesige Marktplatz dehnt sich vor unserem Hotelfenster. Der Portier, ein alter Herr mit Deutschkenntnissen, weist uns zwei Zimmer mit Blick auf die Mariensäule und auf die ein- und zweistöckigen Häuserfronten, auf die schmiedeisernen Balkone und reliefverzierten Erker, zu. Dahinter Zwiebeltürme und hohe Hügel. Unten im Restaurant sitzen Jugendliche und alte Damen von Moravská Třebová beim Bier, für das die Gegend berühmt ist oder beim "Häferlkaffee" ohne Milch, den man aus dem Glas süffelt. Die Mädchen tragen Jeans, den Burschen hängen die Haare in den Nacken, es wird geflirtet und gelacht.
Nur die vielen jungen Männer in braungrüner Uniform mit vulgär blitzenden Goldverzierungen vermitteln einen unangenehmen Geschmack im Mund. Soldaten! Ostblock-Soldaten! Unter der weißen Tischdecke tauschen sie einen Händedruck mit ihren Mädchen. Es ist Samstag abend. Wir wagen in der verhangenen Dämmerung einen ersten Orientierungsspaziergang. Ruß knirscht unter den Stiefeln, nach Ruß riecht die Luft. In der Kirche knien uralte Frauen mit Kopftüchern vor flackernden Kerzen. Das Renaissance Schloß wirkt verfallen. Düster alles. Wir kehren zurück ins Hotel, wo Hochzeitsgäste im Extrazimmer zu lauter Musik tanzen.

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"Mein Gott, Mährisch-Trübau, wenn ich an das denk! Die Bäckerei in der Holzmeisterstraße, die gehörte der Tante Fani. Am Dachboden oben standen Säcke mit Haselnüssen und Weinbeerln. Der Loisl. das war der Lehrbub. Er hat mir von dort oben immer wieder ein paar Köstlichkeiten zugesteckt. Er und der Herbert, der zweite Lehrbub, die haben mich verehrt. Und dann gab es noch den Olbert Emil. Der war Musiker. Er hat für mich einen Lottchenwalzer und eine Lottchenpolka komponiert. Nachher hat er mir nach Innsbruck geschrieben: Es ist schon eine Innsbruckerin durch einen Mährisch-Trübauer glücklich geworden!" Das war im Jahr 1913, in den letzten Sommerferien meiner Großmutter. In Mährisch-Trübau. Ein Jahr später starb ihre Großmutter und der große Krieg brach aus.

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Ausgerechnet "Třída Československé Armády" nennt sich die Holzmeisterstraße heute, "Straße der tschechoslowakischen Armee". Der alte Mann in der Portierloge gibt mir diese Information. Nun haben wir sie leibhaftig vor unseren Augen, die Holzmeisterstraße 8: ein schmales, zweistöckiges Häuschen, ab dem ersten Geschoß in Schönbrunnergelb, verzierte Fenster, zwei ovale Dachbodenluken. Im Parterre eine Auslage mit verschrumpelten Äpfeln, einem Tellerchen mit Walnüssen, rosa und gelb bemalten Blumen aus Styropor und Worte auf tschechisch. Kein Duft nach Buchteln und Kipferln. Drinnen im sauber ausgeweißelten Hausflur mit wunderschönem Gewölbe zeigt sich, daß die Tür zur einstigen Bäckerei verrammelt ist. Durch einen Gang geht es weiter in einen Hinterhof. Eine Birke wartet sehnsüchtig auf den Frühling. Wurden hier die Nüsse und Rosinen verarbeitet? Stiegen begrenzt von schmiedeisernem Geländer führen in die oberen Stockwerke. Hallen nicht von ferne die lebhaften Schritte der kleinen Lotte und ihrer zwei Jahre älteren Schwester Mizzi wider? Nichts. Die drei Parteien zeigen sich nicht. Die Vergangenheit beibt stumm.

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Der Friedhof von Mährisch Trübau Auch am Friedhof tut sie sich nicht auf. Systematisch wandern wir die Grabreihen entlang, die sich den romantischen Kreuzberg hinaufziehen. Aber weder das Grab der Tante Fani, bei der die Schwestern oft zu Gast waren, noch das der Großmutter meiner Großmutter findet sich. Diese alte Frau wohnte im noch schmaleren gelben Häuschen neben dem schmalen Bäckerhäuschen. "Ein Weibel aus einem Dorf in der Nähe von Mährisch-Trübau. Sie war eine Deutsche, freilich, aber sie hat fast kein Wort Deutsch gesprochen, nur Böhmisch," erklärte meine Großmutter mir oft, und fand die Widersprüchlichkeit dieser Erklärung selbstverständlich. Die Erde am Friedhof ist weich und lehmig. Ein alter Mann bittet mich um Feuer für seine Grabkerze. "Ganz ganz danke," murmelt er.
"Die größte unter den vielen über ganz Mähren verteilten Sprachinseln war der Schönhengstgau," las ich bei Lilian Schacherl. Wir haben den höchsten Punkt des Kreuzberges erklommen und blicken über ein Land, kaum 50 Kilometer von der polnischen Grenze, kaum mehr als zwei Stunden von Drasenhofen entfernt, auch Ungarn ist nicht weit. Hier wird Tschechisch gesprochen, wenig weiter östlich Slowakisch. Viele der alten Gräber weisen deutsche Inschriften auf. Linharts sind hier begraben! Fischer, Wiesner, alles bekannte, ja gar verwandte Namen.
Die tiefen Bruchlinien deses Jahrhunderts zeichnen sich in den Jahreszahlen auf abbröckelnden Grabsteinen und verrostenden schmiedeisernen Kreuzen ab. Die deutschen Namen enden in den zwanziger und dreißiger Jahren, der jüngste stammt aus 1940. Die jungen Menschen, denen wir in Moravská Třebová begegnen, wirken unbelastet von der Vergangenheit. Aber Tatsache bleibt doch, daß sich hier Tragödien abspielten. Den Richter spielen? Eine Aufgabe, die zumindest mich überfordert.

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"Aber das beste waren doch die Levies! Die Familie Levie hat riesige Textilfabriken gehabt. Die waren so reich. Meine Tante Fani war dort Köchin. Diese Levies waren Juden. Sie haben uns in ihr Haus eingeladen und mit einer Kutsche abgeholt. Ein herrliches Haus! Einen eigenen Konsum haben die auch gehabt. Wir waren vier Tage dort. In einem wunderbaren Schlafzimmer mit Bad haben wir geschlafen, und zum Essen haben wir nur gute Sachen gekriegt: Gurkensalat mit Rahm, als Beilage kleine Krapferln, Huhn. Das waren Erlebnisse, die kannst du heute keinem Kind mehr bieten! Die Levies haben uns auch Olmütz gezeigt, wo der Vater in die Lehrerbildungsanstalt ging."
Die Begegnung meiner Großmutter mit dem Reichtum passierte in Treibenbach. Unser Portier kennt auch dafür den tschechischen Namen: Trobaneve, zirka zehn Kilometer von Moravská Třebová entfernt. "Nach Gefühl" fahren wir gegen Nordosten. Die Gegend weitet sich, die Hügel werden flacher. Bald begrüßt uns eine Ortstafel: Trobaneve. Ein langes Straßendorf an einem schmalen Bach in einem Graben. Wir parken das Auto bei einer gelben Kirche, erregen die Aufmerksamkeit einer jungen Frau, sie deutet uns, ihr zu folgen. Trotz unserer lehmverschmierten Schuhe werden wir freundlich in eines der Wohnhäuser genötigt. "Kommt' s nur herein!" sagt die alte Frau mit Kopftuch, die 69-jährige Großmutter unserer Führerin. Ihr Vater ist vor drei Wochen mit 98 Jahren gestorben. "Der hätt´ viel erzählen können." Dem Schwiegersohn und der Tochter, die beide in der örtlichen Textilfabrik arbeiten, sagt der Name Levie etwas: "Früherer Chef." Ja, sie kennen auch die Villa. "War das a Jud?", fragt die Großmutter hingegen. "Von dem weiß ich nichts. Muß lang vor dem Hitler weg sein!" Sie bringt uns zur Fabrik, in der man heute nur noch Leintücher herstellt. "Früher haben' s schöne bunte Sachen gemacht!" Auch sie selbst hat über zwanzig Jahre dort gearbeitet. Sie sei Tochter einer Tschechin und eines Deutschen, sagt sie. Der Mann war Deutscher, ist nach zwei Wochen Ehe gefallen. 1945 hätten "die Tschechen" sie samt ihrem kleinen Kind nach Deutschland verjagt. Die Mutter konnte sie zurückholen. "So ein dickes Buch könnt' ich schreiben" sagt sie und spannt Daumen und Zeigefinger weit auseinander. "Lauter Scheußlichkeiten." Die Ereignisse vor 40 Jahren scheinen für sie so nah wie die Gegenwart. "Mindestens hundert Häuser haben sie niedergerissen, die Tschechen!" Sie deutet rechts und links auf Baulücken, die im Sommer wohl hohes Gras überwuchert. Der Ausdruck "die Tschechen" trieft von Bitternis, obwohl sie selbst zur Hälfte ebenfalls tschechisch ist. Nur mehr drei Deutsche im Dorf tragen diese Vergangenheit stets bei sich.

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Die Familie der Großmutter Wir sind vor der Fabrik angelangt: ein Backsteingebäude mit abgeschrägten Dächern. "Es hat immer so ausgeschaut." Daneben versteckt sich fast grüngelb die Villa der Levie unter den Ästen riesiger alter Bäume. Ein Garten, ein Salettl, Türme, Balkone. Meine Großmutter erlebte nur vier Tage in diesem alten Haus, eine winzige Episode in ihrem Leben.
Aber für die alte Frau, die im Hintertrakt ein Zimmer hat und, schwer gestützt auf zwei Stöcke, heraushumpelt, für die alte Frau mit dem aufgeschwemmten Gesicht und den strähnigen grauen Haaren, für sie war dieses Haus süßes und bitteres Ein und Alles. Als sie das Wort "Levie" hört, flüstert sie aufgeregt: "Weggemacht, weggemacht!" Sie nimmt einen ihrer Stöcke zwischen die Beine, formt mit den Händen Gucker vor den Augen, redet hektisch auf tschechisch. Die andere Frau übersetzt: "Der Nachfolger vom Levie hat Kunz geheißen, ein Deutscher. Der hat eine Jüdin zur Frau gehabt. Über Nacht haben sie die weggeholt. Dann hat der Kunz das Dienstmädchen geheiratet. Das Dienstmädchen ist die zittrige Frau vor uns, die in Tränen ausbricht, die wir schnell verlassen, denn die Tschechen, die nun in der "Levievilla" wohnen, machen ihr sonst das Leben schwer. "Alles hat sie verloren", erklärt unsere Führerin später im Auto. "Der Kunz selbst ist schon lange tot."
Ein Händedruck, wir fahren zurück nach Moravská Třebová, sie bleibt zurück, winkt noch. Uber die schmale Asphaltstraße schwebt auf festgetretenem Erdweg unter dem Schatten von Sommerbäumen ein prächtiger Pferdewagen. Zwei halbwüchsige Mädchen sitzen drin, auf dem Weg in ein Erlebnis, das sie Jahrzehnte später ihren Enkelinnen weitererzählen. Mährisch-Trübau, Moravská Třebová, ich komme wieder, wenn der Sommer deine Hügel überzogen hat, wenn die reifen Kornfelder im Winde wogen, von denen die Reiseschriftstellerin Lilian Schacherl schwärmt.

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Kaum eine Woche ist es her, daß wir Mährisch-Trübau verlassen haben und schon versinkt es wieder dorthin, wo die nie erlebten Dinge liegen und auf das Auferstehen warten. Moravská Třebová mit den frisch überzogenen Hotelbetten, mit zweimal am Tag Schweinebraten und Knödel samt Sauerkraut, mit dern Ruß in der Luft und den schlichten Geschäften hinter hübschen, alten Fassaden - hat es irgend etwas zu tun gehabt mit dem Mährisch-Trübau meiner Großmutter? Hat es einen Sinn, noch einmal dort die Vergangenheit zu suchen? Oder ist der einzige zielführende Ort die eigene Fantasie?

publiziert in die frau, 18/1985, S. 16 - 18


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