Ruth Linhart | Japanologie | Texte


Kind und Karriere in Japan

Vor 30 Jahren undenkbar, heute Realität: Väter, die einen Kinderwagen schieben, Väter mit ihren Sprößlingen am Spielplatz und Väter, die ihre Babies baden und wickeln. Seit Anfang der 90iger Jahre existiert gesetzlich die Möglichkeit für Väter, Kinderbetreuungsurlaub zu nehmen.
Ihren väterlichen Gefühlen freien Lauf lassen kann aber in der rigiden gesellschaftlichen Realität trotzdem nur eine verschwindend kleine Gruppe. Denn in der Arbeitswelt herrscht nach wie vor die traditionelle Auffassung der Mutter- und der Vaterrolle vor. In wirtschaftlich härteren Zeiten können es sich junge Paare nicht leisten, gegen den Strom zu schwimmen. Die Idee, Kinder ohne Vater, also unverheiratet aufzuziehen, ist für japanische Frauen ein Tabu.

Japanische Familie


Alleinerziehende Mütter – ein Tabu-Thema

Die zwei Oberschul-Lehrerinnen aus Hamamatsu, die sich für ein Interview zur Verfügung gestellt haben, wirken vor den Kopf gestoßen, als ich sie routinemäßig nach ihrem Familienstand frage und damit die Möglichkeit einbeziehe, sie könnten unverheiratet sein. „Wir würden sofort unsere Stelle als Lehrerin verlieren“, sagen sie. "Eine ledige Mutter findet nur sehr schlecht bezahlte und sozial niedrige Arbeit“.

Oberschul-Lehrerinnen aus Hamamatsu Oberschul-Lehrerinnen aus Hamamatsu Oberschul-Lehrerinnen aus Hamamatsu

Yoshiko Ota, 37, ist Mutter von drei Buben, 9, 7 und 2 Jahre alt. Sie unterrichtet an einem Gymnasium Haushaltslehre, ihr Mann, 42, an einer anderen Oberschule Sozialkunde. Kanae Kaneko, 26, hat ein einjähriges Töchterchen, ist Assistenzlehrerin für Chemie, ihr Mann, 29, ist Angestellter einer großen Firma. Hamamatsu liegt in Mitteljapan am pazifischen Ozean. Als Industrie- und Schulstadt mit ca. 600 000 Einwohnern bietet es für japanische Maßstäbe relativ „gemütliche“ Lebensverhältnisse. Die Infrastruktur ist gut, und die Anfahrtswege sind verglichen mit Tokyo oder Osaka leicht zu bewältigen. Wie die beiden Frauen betonen, gibt es im Schulbereich, anders als in der Privatwirtschaft, nur geringe Unterschiede zwischen den Geschlechtern. „Es ist hier ein Arbeitsklima, das es leicht macht, mit kleinen Kindern weiterzuarbeiten“. Frau Ota, die bereits 12 Jahre an der Schule arbeitet, fällt keine Kollegin ein, die wegen der Kinder zu arbeiten aufgehört hätte.

Das erstaunt, denn noch um 1970 blieben die Hälfte der Frauen wegen Heirat und Kindern zu Hause. In den Jahren danach pendelte sich der Prozentsatz bei einem Drittel ein. Wie Daten von 1997 zeigen, liegt der Höhepunkt der weiblichen Berufstätigkeit in der Altersstufe 20-24; 73,6 % dieser Frauen arbeiten. Am wenigsten Frauen, nämlich nur 56,2 %, arbeiten in der Altersgruppe der 30- 34jährigen. Da viele Frauen wieder in die Arbeitswelt zurückkehren, wenn die Kinder größer werden, folgt ein zweiter Höhepunkt der Berufstätigkeit in der Altersgruppe 45-49 Jahre; 72,3 % dieser Frauen sind berufstätig. Der Prozentsatz der Berufstätigen bei den Männern liegt zwischen 25 und 54 Jahren bei 98 %. Eine Befragung unverheirater Frauen über Wunsch- und realistische Lebensplanung zeigt bei beidem die Variante mit Arbeitspause und Wiedereintritt in die Berufswelt im Vordergund. Als Wunschvorstellung hat jedoch die Vereinbarung von Familie und Berufstätigkeit im Vergleich zu 1987 stark aufgeholt.


Sozialpolitische Neuerungen

1997 stellten Männer 59,3 % der Berufstätigen, Frauen 40,7 %. Das 1986 beschlossene Gleichbehandlungsgesetz sichert in Japan theoretisch die Gleichberechtigung in der Arbeitswelt. Da aber viele Frauen als sogenannte „part timer“, das heißt nicht fix angestellt, mit Billiglöhnen und ohne Anspruch auf Sozialleistungen arbeiten, bleibt das Gesetz in vielen Bereichen unwirksam. Der Anteil von fest Angestellten unter den arbeitenden Frauen sank von 68 % im Jahr 1986 auf 57 % im Jahr 1998. „Part timer“ verdienen durchschnittlich weniger als halb so viel wie die angestellten Frauen und ein Drittel der durchschnittlichen Männerlöhne. Männer verdienen insgesamt über 60 % mehr als Frauen.

In den vergangenen Jahrzehnten holten die japanischen Frauen in Bildung und Selbstbewußtsein auf, und ihre Lebenspläne entfernten sich vom traditionellen Rollenbild der gefügigen Tochter, Ehefrau und Mutter. Als Folge stieg das Heiratsalter und das Gebäralter an. Während 1960 die durchschnittliche Japanerin mit 25,4 Jahren das erste Kind bekam, war sie 1998 beim ersten Kind 27,8 Jahre alt. Die Geburtenrate sank 1998 auf 1,38 %. Da die Angst vor einer überalteten Gesellschaft immer mehr zunimmt, beschloß die japanische Regierung in den neunziger Jahren eine Reihe neuer Gesetze bzw. Änderungen bestehender Gesetze in Richtung Mutterschutz und Kinderbetreuung. Sie sollen jungen Frauen ermöglichen, Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen und Vätern die Mitwirkung bei Hausarbeit und Kindererziehung erleichtern. „Aber“, urteilt Yoko Takeda, 43, eine Kollegin meiner Gesprächspartnerinnen, die sich seit 20 Jahren mit Gleichberechtigungsfragen beschäftigt: „Die Priorität unserer Gesellschaftschaft auf Industrie und Wirtschaft unterläuft die Maßnamen, die Ehe und Kinder für junge Frauen wieder attraktiver machen sollen“.


Bezahlter Kinderbetreuungsurlaub

Frau Ota und Frau Kaneko arbeiteten bis sechs Wochen vor der Geburt. Ab diesem Zeitpunkt nahmen sie den Vorgeburtsurlaub in Anspruch. Der „Nachgeburtsurlaub“ beträgt seit 1995 acht Wochen. „Jetzt bekommt man die ganze Zeit den vollen Gehalt ausbezahlt, bei meinen beiden ersten Kindern bekam ich gar kein Geld“, sagt Yoshiko Ota. Nicht bezahlt werden von der Krankenkassen in Japan die Geburtskosten, denn „Geburt ist keine Krankheit“.

Yasuko Imai und Yasuko Makinose

Allerdings gibt es Geburtszuschüsse im Rahmen des Gesundheitsversicherungsgesetzes, die im Nachhinein den Großteil der Krankenhaus- und Ärztekosten refundieren. Vergleichbar mit unserem „Mutter-Kind-Paß“ ist ein „Mutter-Kind- Untersuchungstagebuch“, das vier Gratis-Untersuchungen für Mutter und Kind abdeckt. Diese und andere Maßnahmen fallen unter das Mutter- Kind- Schutzgesetz.

Seit 1978 gibt es für Lehrer und Krankenbetreuungspersonal Kinderbetreuungsurlaub. 1995 wurde er zu einer bundesweiten Regelung für alle Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen in fixen Arbeitsverhältnissen. Der Urlaub ist mit Kündigungsschutz verbunden. Mutter oder Vater können bis zum ersten Geburtstag des Kindes zu Hause bleiben. Ca. die Hälfte der Frauen * nehmen den Geburts- und den Kinderbetreuungsurlaub in Anspruch, aber es ist sehr selten, daß ein Mann in Karenz geht. „In der Firma meines Mannes gibt es auch Männer, die das Kind betreuen, aber nach einem Jahr müssen sie damit rechnen, daß sie irgendwohin strafversetzt werden. Darum hat mein Mann darauf verzichtet,“ berichtet Frau Kaneko.

Während des Kinderurlaubs erhält man 25 % des Lohnes, vier Fünftel davon während der Urlaubsmonate, den Rest ein halbes Jahr nach Rückkehr auf den Arbeitsplatz. Kündigt man vorher, verfällt dieser Anspruch.


Großmutter, Krippe, Kindergarten

Frau Ota wohnt mit ihrer Familie in einem Einfamilienhaus auf dem Grundstück der Schwiegereltern. Die beiden älteren Kinder gehen in die nahe Volksschule. Den Zweijährigen gibt sie, bevor sie mit dem Auto an ihren Arbeitsplatz fährt, bei der Großmutter ab. Der Arbeitstag an der Schule sei angenehm: „Wir müssen im Unterschied zu privaten Unternehmen keine Überstunden machen. Ich fange um 8.15 Uhr an und verlasse die Schule um 17 Uhr.“ Dasselbe gilt für Frau Kaneko.

Bei der Heimfahrt von der Schule erledigt Frau Ota im Supermarkt den Einkauf. Für das Ehepaar Kaneko, die in einer Lehrerwohnung nahe der Schule wohnen, gehört der einmalige Großeinkauf zu den familiären Wochenendaktivitäten. Bei Otas paßt die Großmutter auf die drei Buben auf, bis die Mama heimkommt. Frau Otas Mann kommt später nach Hause als sie und ist auch an den Wochenenden meistens in der Schule. An Wochenenden werden den Schülern nämlich betreute Klub- und andere Freizeitaktivitäten angeboten.

„Als die Kinder klein waren, hat er vieles gemacht, Windeln gewechselt, sie auf den Topf gesetzt, Hausarbeit. Auch jetzt möchte er mit den Kindern spielen, aber es gibt kaum Zeit dafür.“ Frau Kaneko erzählt Ähnliches. Allerdings betreut Herr Kaneko am Samstag das Töchterchen, weil sie da oft in der Schule sein muß, während ihr Mann in seiner Firma die Fünftagewoche hat. Von Montag bis Freitag ist das Mädchen in einer Kinderkrippe untergebracht. „Es war sehr schwierig, einen Platz zu kriegen“, erinnert sich Frau Kaneko. Frau Otas Jüngster wird mit drei Jahren in den Kindergarten gehen, möglich sei es ab zwei Jahren. Die Versorgung mit Kindergartenplätzen ist zufriedenstellend: „Es gibt städtische Kindergärten, aber auch private, von Kirchen, Tempeln, Privatpersonen“. Das Ehepaar Kaneko zahlt für die private, jedoch offizielle anerkannte und daher von der Stadt unterstützte Kinderkrippe im Monat 50 000 Yen **. Für das zweite Kind würde man halb so viel zahlen und für das dritte gar nichts. Da beide Eltern Kaneko verdienen, gibt es keinen Zuschuß für sie. Die finanziellen Zuschüsse für Kindergärten sind ebenfalls nach dem Einkommen der Eltern gestaffelt. Sogar die Volksschule kostet Schulgeld: „Nur 5000 oder 6000 Yen, weil alle gehen müssen“, erkärt Frau Ota. In städtischen Kindergärten zahle man ebenso viel, in privaten zwischen 20 000 und 30 000 Yen. Das Nettoeinkommen von Frau Ota liegt bei ca. 300 000 Yen, also um die öS 40 000,--, wobei sie Kranken- und Pensionsversicherung selbst zahlen muß. Frau Kaneko, die erst wenige Jahre arbeitet, verdient netto ca. 200 000 Yen, umgerechnet rund ös 25 000,--.


Kinderwünsche

Frau Ota, die dreifache Bubenmutter, hätte zwar gerne noch ein Mädchen, aber: “Für Japan sind drei Kinder schon viel. Die Lebenshaltungskosten sind sehr hoch. Die Erziehung kostet viel Kraft und Geld, mehr ist unmöglich“. Häufigste Praxis der Empfängnisverhütung ist ihrer Meinung nach „Aufpassen“ und der Schutz der Männer mit Kondom. Frau Kaneko lacht: „Unser Kind wird bald zwei Jahre, mir würde eine weitere Schwangerschaft jetzt nichts ausmachen. Aber meistens sind mein Mann und ich so müde, daß wir mit dem Kind zusammen einschlafen ...“

* Zahlen von 1993
** Im Jahr 2000 waren 100 Yen je nach Wechselkurs ca. öS 12,-- bis öS 15,--

Ruth Linhart, Welt der Frau, 4/2001 S. 35, 36


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