Ruth Linhart | Japanologie | Onna da kara

Kimiko M., 38, Tôkyô, 1. August 1988

Aussprechen statt aushalten

Kimiko M.
Am späten Nachmittag holt mich ein Journalist, Herr S., der ein Bekannter einer Bekannten einer Freundin ist, mit dem Taxi ab und fährt mit mir zum Akasaka-Palace-Hotel. Im alten Gebäudetrakt dieses Prachthotels hat er ein Extrazimmer bestellt. Bald taucht Kimiko M. auf, die mama-san ("Frau Mama") einer Bar an der Ginza.
Ich hatte mir als Gesprächspartnerin eine Frau aus dem "mizushôbai", aus der Unterhaltungsbranche, gewünscht. Das ist der Sektor der Arbeitswelt, der einerseits erotische Entspannung für die japanischen Männer bietet und anderseits Arbeitsplätze für Frauen, wenn sie aus irgendwelchen Gründen den strengen sozialen Normen nicht entsprechen, zum Beispiel wie Frau M. geschieden sind. Eigentlich wollte ich eine Serviererin oder eine Bardame (hostess) oder eine andere "ganz normale Frau" aus diesem Arbeitsbereich kennenlernen. Aber die Suche nach der "ganz normalen Frau" stellte sich bei der Recherche für dieses Buch insgesamt als schwierig heraus. Frau M. jedenfalls gehört zur "Elite". Immerhin ist die Ginza von Tôkyô , wo sie eine Bar führt, das teuerste Vergnügungsviertel Japans, vielleicht der Welt.
Während wir auf sie warten, während des Interviews und dann später, als uns Frau M. in ihre Bar führt, fühle ich mich wie auf einem zugefrorenen See. Nach allem, was ich von den Preisen für Etablissements der beiden Arten gehört habe, kann es nicht anders sein, als daß dieser Abend meine finanziellen Mittel bei weitem übersteigt. Außerdem - wie sollte ich zahlen, wo es doch üblich ist, daß der Gastgeber immer zahlt - und wie sollte ich mich bei dem Journalisten und meiner Interview-Partnerin erkenntlich zeigen? Man hatte mir nahegelegt, für jedes Interview nach japanischer Sitte einen Geldbetrag im Geschenkkuvert zu überreichen. Mit einem Kuvert, in dem 3000 Yen stecken, war es aber hier wohl nicht getan! Ich entschließe mich, vorderhand einmal den seltsamen Abend so gut ich kann zu genießen. Die "mama-san" ist eine strahlend hübsche Erscheinung im weißen Kostüm. Ihr Kostüm ist V-förmig ausgeschnitten und gibt den elfenbeinfarbenen Hals so weit frei, daß man den Brustansatz ahnt, eine Spitze vom Büstenhalter blitzt, an den Ärmeln glitzern gläserne Knöpfe.
Ja, es werde allgemein schon als etwas unhöflich betrachtet, wenn man nach dem Alter fragt, meint Kimiko, aber ihr mache es nichts. Es hätte keinen Sinn, diesbezüglich zu lügen, sie sei 38.
Also, ich werde alles von Anfang an erzählen. Ich bin aus Nagasaki, war elf Jahre verheiratet und habe drei Kinder.
Mit 32 Jahren hab ich mich scheiden lassen. Mit demselben Alter wie meine Mutter. Sie ist den gleichen Weg gegangen wie ich. Sie lebt auch in Tôkyô und ist wieder verheiratet. Ich habe mit 32 also einen späten Start in das Unterhaltungsgeschäft gemacht. Bevor ich mein Geschäft aufgemacht habe, war ich einige Jahre Animierdame (hostess).
Vor der Heirat ging ich in die Oberschule. Dann war ich in einer Schule für englische Konversation, weil ich nach Amerika fahren wollte. Das war damals Mode. Ich hatte tatsächlich die Gelegenheit, nach New York zu gehen. Zwei Monate. Mit 19. In New York lebte ein Freund, aber ich fühlte mich dort nicht wohl. Es waren viele Japanerinnen dort, aber sie schienen mir nicht glücklich. Wenn sie nach Japan zurückkamen, hatte sie keinen Zugang mehr zu ihren Familien. Ich selbst lebte bis zur Mittelschule bei meinem Vater und danach bei meiner Mutter. Meine Mutter arbeitete damals mit Kosmetika. Sie ist eine starke Frau und verdiente gut. Ich arbeitete beim Film. 1970 heiratete ich. Ich war Hausfrau und arbeitete auch in der Kosmetik-Branche. Zum Unterhaltungsgeschäft hatte ich überhaupt keinen Kontakt. Die Situation war so, daß ich arbeiten mußte.
Wir haben schnell ein Haus gebaut. Dann kam der Ölschock, es waren Kinder da, so ging es nicht anders. Mein ältester Sohn geht schon in die Oberschule, der mittlere in die Mittelschule, das kleinste in die Volkschule. Das kleine Mädchen nahm ich nach der Scheidung mit, aber sie konnte sich nicht an Tôkyô gewöhnen. Ich habe den Kindern nichts von Scheidung gesagt, sondern daß die Großmutter krank sei. Sie hätten es nicht verstanden, wenn ich ihnen die Wahrheit gesagt hätte. Für die Scheidung hat es mehrere Gründe gegeben.
In Nagasaki ist das alte Japan noch erhalten, eine unvorstellbar konservative Art zu denken - gegenüber der Braut, der Schwiegertochter.
Es war eine Liebesheirat, er war ein Mitschüler aus der Mittelschule. Aber er ist nie von den Eltern unabhängig geworden. Gegen Ende meiner Ehe dachte ich mir immer mehr: "Ich habe nur ein Leben und das will ich mir nicht kaputt machen lassen." Ich habe schließlich von Scheidung gesprochen. Ich wollte es. Natürlich dachte ich auch an die Kinder. Aber ich kam zum Entschluß, daß ich diese Ehe einfach nicht durchhalten konnte. Ich möchte vor Herr S. nicht alles erzählen, aber es gab auch sexuelle Probleme. Wir konnten uns nicht mehr ausstehen. Ich verließ die Familie und einige Monate später ließen wir uns einvernehmlich scheiden. Daß ich die Kinder weiter treffe, war eine Voraussetzung. Er hat jetzt wieder geheiratet, es gibt schon wieder neue Probleme! Zu den O-bon-Feiertagen fahre ich wieder drei Tage hin. Das älteste Kind versteht schon alles, die Kleinere möchte bei mir leben. Ich möchte die Kinder weiterhin beraten, wenn sie etwas brauchen.

F.: Warum sind Sie ins Unterhaltungsgeschäft gegangen?
Weil ich nur von Kosmetika und von der Unterhaltungsbranche etwas verstehe. Ich war zuerst bei meiner Mutter, der es finanziell gut geht, aber ich wollte nicht neuerlich von jemandem abhängig sein. Ich wollte etwas anderes tun, ein Ziel haben. Ich war ziemlich spät daran für solche Pläne, mit 32. Meistens sind die Leute im mizushôbai sehr jung. Es sind viele dabei, die nach ein, zwei Jahren Ehe dort landen. Besonders war nur, daß ich nach elf Jahren Ehe dort anfing. Die meisten haben noch keine Kinder. Ich war schon sehr aufgeregt. Habe die Zähne zusammengebissen. Es war nicht so einfach für mich, nach so langen Jahren als Hausfrau. Ich kannte jemandem bei einem "Klub". Über diese Person bin ich in das Lokal gekommen, in dem ich dann lange arbeitete. Später sagte mir die Mama dort: ,,Weißt du, um ehrlich zu sein, als du angefangen hast, dachte ich mir, du wirst baden gehen. Mit 32, Hausfrau, ausgeschaut hast du wie eine Tante." Ich schaute nicht jung aus, nach elf Jahren Hausfrauendasein und viel Kummer. Ich dachte mir, ich werde niemanden mehr finden. Es gibt in Japan wenig Gelegenheit, Männer zu treffen. Ein Jahr habe ich jeden Tag beim Heimkommen nur geweint. Dann plötzlich gewöhnte ich mich daran. Ich hatte das Gefühl, ich hätte einen Graben übersprungen.
Das eigene Geschäft habe ich jetzt seit zwei Jahren. Es geht gut. Es ist ein kleines Lokal. Ein ruhiges. Ich habe schon Kinder geboren, bin nicht sehr gesund, ich kann mich nicht überanstrengen.
Ich stehe erst gegen zehn Uhr auf und lege mich auch untertags nieder, wenn ich müde bin. Nachmittags schlafe ich oder mache Besorgungen. Ich esse fast nur auswärts, koche zu Hause kaum, höchstens etwas Leichtes, wenn mich meine Mutter am Wochenende besucht. Am Samstag mache ich die Büroarbeit, zwei Frauen helfen mir bei der Buchhaltung. In meinem Lokal arbeitet ein Mädchen und ein Bursch, er bereitet einfache Sachen zu.
Ich habe nicht mehr geheiratet. Dann könnte ich diese Arbeit nicht fortsetzen. Ich lebe allein.

F.: Welche Gäste kommen zu Ihnen?
Meine frühere Chefin fragte einmal die Gäste, warum sie kommen. "Um mir die Sorgen zu vertreiben" und "Um Bekannte zu treffen". Dorthin kamen Leute aus der obersten Schicht. Das Mindeste waren Abteilungsleiter von Firmen. Man muß schauen, daß die Gäste Leute von Niveau sind. Es können auch junge Leute sein, wenn sie zum Beispiel Schriftsteller sind. Es müssen Leute sein, die in der Gesellschaft aktiv sind. Ich lehne Gäste ab, die ich gar nicht kenne. Nicht aus Willkür, sondern aus Angst. Man weiß nicht, wer das ist. Es könnten Gangster sein. Auch politisch gibt es allerhand zu bedenken. Ich suche mir vor allen Gäste aus, die geschäftlich trinken gehen, bei denen es sozusagen zur Formalität der Firma gehört. Ich bemühe mich, für diese Gäste eine gute Atmosphäre zu schaffen, sodaß sie gerne wiederkommen. Ich möchte mein Geschäft noch lange betreiben. Ich will mir damit in erster Linie den Lebensunterhalt verdienen. Ich habe einen Bankkredit aufgenommen und die Mutter war für mich Bürgin. Jetzt zahle ich ab.
Es gibt Lokale, wo sich die Leute treffen, um ein Geschäft gut über die Bühne zu bringen. So ein Lokal ist meines nicht. Hier trifft man sich zwangslos. Es gibt auch Lokale, wo der Kontakt mit Frauen der Zweck des Besuches ist. Das ist bei uns auch nicht ausgeschlossen. Es gibt Leute, die wegen mir kommen, die mich mögen, aber sie kommen nicht nur aus diesem Grund. Es wird getrunken, man lacht und unterhält sich, das Mädchen an der Bar sagt: "Ihre Krawatte ist aber schön!", "Sie sind aber gescheit." Das ist das Service. Es wird geplaudert, ohne tiefe Bedeutung. Die Männer, die in der Firma eine anstrengende Arbeit machen, entspannen sich. Ich glaube, daß sie sich wohl fühlen.Ich mache nicht viel Komplimente, weil ich das nicht kann. Manche sagen deshalb: "Das ist ein unliebenswürdiges Lokal." Aber obwohl ich ein unliebenswürdiges Lokal habe, geht es ganz gut. Ein ganz unerotisches Lokal!
Manchmal sprechen die Gäste auch über ihre Probleme. Die Wahrheit sagen sie aber kaum, weil sie nicht allein sind. Sie sprechen nicht offen über traurige Punkte ihres Lebens, über Sorgen oder Kummer, sondern nur über die Firma und Ähnliches.
In großen Klubs ißt man zusammen mit den Gästen. Da zeigen sie schon ihr wahres Gesicht in bezug auf die Familie, auf die Arbeit oder Verliebtheit. Ich glaube, die japanischen Männer stehen unter ziemlichem Streß. Das Trinken hat den Zweck, diesen Streß aufzulösen.

F.: Hat die Ehefrau zu Hause nicht auch die Aufgabe, Gesprächen über die Arbeit anzuhören?
In Japan ist das nicht so. Besonders in Tôkyô, wo die Elite arbeitet. In der Provinz gehen die Männer vielleicht gleich nach Hause.
Es gibt auch weibliche Gäste, auch Paare, aber das kommt selten vor. Die Männer kommen im Rahmen ihrer Arbeit bevor sie nach Hause gehen auf ein Glas. Für Menschen, die sich um eine Familie kümmern müssen, ist das in der Nacht nicht möglich. Zu mir kommen auch oft Gäste, die nach einem Geschäftsessen noch über die Arbeit reden. Oder, weil sie eine Frau treffen wollen, die ihnen gefällt. Oder weil sie Bekannte treffen möchten. Weil es mit der Ehefrau Schwierigkeiten gibt und sie nicht nach Hause wollen, weil sie ihre Frau nicht treffen wollen. Es gibt viele, die lang aufbleiben und trinken gehen.

Herr S. mischt sich ein:
In Japan wird das nicht geschätzt, wenn jemand gleich nach der Arbeit heimgeht. Man geht noch aus und kommt spät heim. Solche Leute sind angesehen. Und auch umgekehrt. Weil sie angesehen sind, müssen sie ausgehen, essen, in einen Klub oder in so kleine Lokale wie das von Frau M. Es gibt verschiedene Arten, trinken zu gehen.

Kimiko fährt fort:
In der Ginza ist der Level noch hoch, weil gute Gäste kommen, aber ich glaube, das wird sich ändern, weil sich die Werthaltungen ändern. Junge Leute gehen nicht mehr in die Ginza trinken. Ein gewöhnlicher Angestellter mit 27, 28 Jahren kann es sich nicht leisten, zu mir zu kommen. Das normale Alter meiner Gäste ist um 50. Unser Lokal hat nur eine Theke, darum ist es nicht teuer. Aber wahrscheinlich ist es auch nicht besonders billig. In einer Counterbar und in einem Klub zu trinken, unterscheidet sich preislich grundlegend. Wir haben das "Bottle-System". Wir behalten die Flasche, und wenn der Gast das nächste Mal kommt, trinkt er von derselben Flasche. Der billigste Alkohol - kein schlechter - kostet 22 000 Yen - das ist mittlere Klasse. Wenn der Gast das nächste Mal jemanden mitbringt, ist es billiger. Der Sitz kostet bei mir 10 000 Yen.
Am Wochenende haben wir geschlossen, weil da alle Männer bei ihren Familien sind. Viele spielen am Wochenende Golf.
Zu O-bon mache ich auch eine Woche zu. Der junge Mann fährt nach Hause und ich fahre zu den Kindern. Das junge Mädchen, das bei mir arbeitet, wohnt in Yokohama. Ich gebe ihr auch eine Woche Sommerferien.
Wir haben täglich von ½7 Uhr abends bis ½1 Uhr früh geöffnet. Meistens bleiben die Gäste bis Mitternacht. Zum Essen bieten wir nur leichte Sachen an. Ich kann auch früher gehen, weil ich zwei Angestellte habe. Im Sommer gibt es eine Flaute und auch im Feber kommen weniger Gäste.
Es ist mein eigenes Geschäft, es gehört mir. Es gibt Lokale, die ein sogenannter Patron, ein "Beschützer", besitzt. Aber ich bin ein sehr eigenwilliger Mensch. Ich möchte nicht an einen Menschen gebunden sein. Heirat, Ehe ist so eine Art Fesselung. Es ist aber sehr häufig, daß Lokale einem Patron gehören, es ist einfacher. Ich bin selbst völlig unabhängig. Ich verliebe mich zwar gern, aber ich könnte mir nicht vorstellen, einen "Beschützer" zu haben. Ich glaube, ich habe Glück, daß ich es allein geschafft habe. Viele Leute haben mir dabei geholfen. Meine Mutter lebt in einer wohlhabenden Familie, darum konnte sie für meine Schulden bürgen. Wenn das nicht der Fall ist, muß ein Mann einspringen.
Es gibt schon auch verheiratete Frauen, die ein Lokal haben, aber ich glaube, die verheimlichen das vor den Gästen. Wenn das bekannt wird, kommen die Gäste nicht mehr. So sind die japanischen Männer...
Wenn eine Frau verheiratet ist, merken das die anderen offensichtlich. Ihr Benehmen gegenüber den Männern ändert sich. Die Lebensmuster ändern sich auch. Ich gebe meinen Gästen nach Belieben meine Telefonnummer, auch die private. Ich bekomme Einladungen zum Essen, zu Flamenco... Wenn ich verheiratet wäre, ginge das kaum. Man kann nicht beides haben...
Es gibt jetzt mehr Männer, die Hausarbeit machen. Alles hat sich geändert. Wie ich neulich gelesen habe, gibt es das Image der yamato-nadeshiko, der "Nelke von Yamato" nicht mehr. Das Image. Aber die yamato- nadeshiko gibt es noch. Wenn ich jetzt verheiratet wäre, müßte mein Mann Verständnis dafür haben, daß ich nicht koche, meinen Schlaf brauche etc., sonst könnte ich nicht weiterarbeiten.

F.: Besteht ein grundlegender Unterschied zwischen einer Beziehung zu einem Liebhaber und einem Ehemann?
Ich glaube schon. Liebhaber trifft man, wenn es beiden paßt. Ich sehe ihn nur, wenn ich mich gesundheitlich und seelisch wohl fühle. Mir ist das angenehm. Es ist für beide angenehm (lacht).

F.: Wenn Sie Ihr Leben mit dem einer Hausfrau vergleichen, welche Vorteile, welche Nachteile sehen Sie?
Die Vorteile liegen vor allem in der Wirtschaftskraft. Ich wohne in einem mansion, kann mir jederzeit ein Taxi leisten, kann mich ausruhen, Videos anschauen, lesen, auswärts essen. Das alles kann eine gewöhnliche Frau nicht.
Nachteile sind - der Arbeitsdruck. Man weiß nicht, ob Gäste kommen, sie bestellen nicht vorher. Immer wieder gibt es ein Krisengefühl. Eine Hausfrau hat diese Unsicherheit nicht. Sie ist abgesichert. Weil ein Ehemann da ist.
Ich habe nicht erwartet, daß es leicht wird, wenn ich mich scheiden lasse. Wenn ich allein bin, bin ich unabhängig. Ich kann in meiner Freizeit tun, was ich mag. Die menschlichen Beziehungen sind jetzt anders als bei einer Hausfrau. In Japan ist die Ehe nicht nur auf die Beziehung zwischen den Ehepartnern beschränkt. Es gehört auch die zu den Geschwistern, den Eltern dazu. Auch mit denen muß die Ehefrau gut auskommen. Unabhängig davon, ob sie diese gern hat oder nicht. Die Schwiegermutter hat das Gefühl, die Schwiegertochter nimmt ihr den Sohn weg. Diese Eifersucht hat als Folge, daß die Schwiegertochter schlecht behandelt wird. In meinem Fall hat mein Mann das wiederum meiner Schwiegermutter vorgehalten.
Offensichtlich können sich Frauen schwer miteinander vertragen. Sie haben Angst um ihr eigenes Territorium. Wir haben nicht zusammengewohnt, aber die Geschwister waren oft da und ich kochte immer für sieben oder acht Leute. Es war auch körperlich sehr anstrengend. Ich habe viel aushalten müssen. Daß ich zu einem eigenen Geschäft gekommen bin, hat seinen Grund darin, daß ich die Fähigkeit erworben habe, etwas auszuhalten. Ich habe wirklich gelernt durchzuhalten.
Heute glaube ich aber, daß dieses Durchhalten nicht richtig ist. Auch in der Beziehung zwischen Frau und Mann ist es besser, nichts Unmögliches zu wollen, sich entspannt zu treffen, nichts "auszuhalten". Geduld, Langmut (nintai), das sind Eigenschaften, die nötig sind, um ein Geschäft zu führen. Etwas durchzustehen (gaman), das versuche ich fast nicht mehr. Eigensinn (wagamama) ist auch nicht gut.
Wenn ich etwas sagen möchte, sage ich es. Aber man muß die Dinge mit Liebe (aijô) sagen. Etwas Wichtiges muß ich ausprechen, nicht aushalten. Ich habe durch meine Scheidung viel gelernt.

F.: Führen japanische Ehepaare vertraute Gespräche?
In meinem Fall kam es zur Scheidung, weil ich das nicht konnte. Anfangs öffnete ich mich, zum Beispiel über Probleme mit der Schwiegermutter oder wirtschaftliche Probleme. Dann hat mein früherer Mann sofort die Schwiegermutter angerufen: ,,Warum behandelst du sie schlecht?" So wurde die Beziehung mit der Schwiegermutter immer schlechter. Ich begann, die Unzufriedenheit mit meinen Schwiegereltern und den Schwägerinnen nicht mehr zu äußern. Ich schwieg. Viele Jahre. Das führte zur Scheidung. Ich konnte nichts mehr sagen. Ich hätte gerne in einem kleinen Haus nur mit meiner Familie gewohnt, nicht in einem großen. Aber für ihn war nur die Familie (ie) wichtig. Ich schlug zum Beispiel vor, in eine Firmenwohnung zu ziehen. Die Kinder hatte ich lieb, darum wollte ich die Familie erhalten. Immer wieder habe ich dieses Thema vorgebracht. Dafür hat er kein Verständnis gehabt. Es gab einige Gründe, daß er von dem großen Haus nicht wegwollte. In der Provinz kümmert man sich darum, was die Nachbarn sagen. In Tôkyô kümmert man sich nicht darum, wer nebenan wohnt.
Ich glaube, daß sich die Sachen nicht plötzlich ändern, sondern langsam. Jetzt tauchen unter den jungen Leuten immer mehr "neue Menschen " (shinjinrui) auf, die sich an das, was die Gesellschaft von ihnen verlangt, nicht mehr anpassen wollen. Es gibt auch Dinge, die wir nicht mehr verstehen können. Zum Beispiel, daß den Gästen unvorstellbare Dinge gesagt werden. Daran merke ich, daß ich alt werde.
Diese neuen Jungen reden deutlich, gerade heraus, sehr amerikanisch. Die Japaner drücken sich bisher etwas verschwommen aus. Das Mädchen, das bei mir arbeitet, gehört zu diesen neuen Jungen. Sie ist 28. Zum Beispiel ist sie mit Gabel und Messer aufgewachsen und hat Schwierigkeiten mit Eßstäbchen. Sie kann den Tofu nicht mit Stäbchen essen. Sie ist schlecht erzogen.
Es handelt sich um den Arbeitsplatz, daher müssen wir manchmal auch lügen. Wenn jemand sehr unsympathisch ist, müssen wir doch lächeln. Sie sagt: ,,Mit jemandem, der mir unsympathisch ist, will ich nicht reden."
Ich habe schon davon gehört, aber direkt begegne ich so etwas das erste Mal. Sie sagt nicht "Entschuldigung", und sie grüßt auch kaum. Das kann ich ihr nicht beibringen, das hätten ihr ihre Eltern beibringen müssen. Es ist ein Problem der Familienerziehung. Aber sie ist ein hübsches Mädchen, das als Modell gearbeitet hat. Die Männer sprechen auf sie an. Sie ist etwas Besonderes. Drum hab ich sie genommen. Ich habe mit ihr geredet und sie hat sich ein bißchen gebessert, aber sie ist wirklich geradeheraus. Sie sagt zum Beispiel zu einem Gast: "Sie wissen ja überhaupt nichts!" Ich war ganz erstarrt. Der Gast hat nur gelacht. Sie hatte recht, aber trotzdem!
Sie hat sich auch beklagt, daß ich ihr zu wenig zahle, obwohl ich ihr mehr gebe, als ich ihr geben müßte. Als sie sich über einen Gast ärgerte, verschwand sie einfach eine Stunde.

F.: Wer sind für Sie vertraute Menschen?
Die Mutter, sie ist 65. Und meine frühere Chefin, sie hat mir immer geholfen. Meine Freundinnen haben mit meiner Arbeit nichts zu tun. Eine Restaurantbesitzerin zum Beispiel, oder Freundinnen aus der Schulzeit. Aber ich habe mehr vertraute Menschen unter Männern. Die Frauen von der Ginza plaudern. Die Männer sind anders. Ich habe Freunde und Liebhaber. Mit einem Liebhaber berate ich mich nie.

F.: Wie stellen Sie sich Ihre Zukunft vor?
Ich zahle noch drei Jahre den Kredit zurück. Dann möchte ich noch ein Lokal. Vielleicht ein Restaurant. Es ist schön, mir so etwas auszudenken. Man sagt über mich: "Sie hat schon alle Erfahrungen gemacht, Heirat, Scheidung, ein eigenes Geschäft".
Meine Lebenserfahrung sagt mir: "Lebe möglichst angenehm (tanoshii). Es gibt genug Sorgen. Ich möchte mir Erinnerungen schaffen. Reisen.
Ich leiste keinen Widerstand mehr, weil ich glaube, daß Streiten nicht zur Lösung von Problemen beiträgt. Früher sagte ich alles geradeheraus. Heute glaube ich, daß die Zeit Lösungen bringt. Warten auf die richtige Zeit. Wenn man jung ist, bringt man das nicht zusammen.
In Japan gibt es jetzt viele selbständige Frauen. Meine Kinder sollen auch selbständig werden, Mädchen und Buben. Aber Buben werden das sowieso.

Wir verbrauchen zwei Tonbandkassetten, dann bestellt Herr S. Toast, Sandwiches und Bier. Er bezahlt. Gegen neun Uhr fahren wir mit dem Taxi in Kimikos Lokal, eine winzige Bar im fünften Stock eines Bürogebäudes an der Ginza. Fensterlos, Neonlicht, eine Theke, der "counter", breit, geschwungen, insgesamt vielleicht zehn Sitzmöglichkeiten. Alles aus dunklem schweren Holz, auch die Wände damit verkleidet. Während Frau M. sich zur Gastgeberin wandelt, die beflissen an der Seite der Gäste sitzt, mit ihnen plaudert, nasse Stellen an der Theke mit Papierservietten trocken wischt und leere Gläser zum Nachfüllen über die Theke reicht, bedienen hinter dieser Theke ein junger Mann und ein junges Mädchen. Dieses Mädchen trägt die schwarzen gelockten Haare offen, ebenfalls ein weißes Kleid - alles ist weiß hier, von den Blumen bis zu den Bierdeckeln und Frau M.s Visitenkarte. Das Mädchen an der Bar wirkt überlegen, trinkt und raucht und scherzt. Der junge Mann bereitet schweigsam kleine Happen zum Dazuessen.
Die heutigen Gäste seien vorwiegend Herren aus Verlegerkreisen, erklärt mir mein Begleiter. Ich werde ignoriert, bin diese Verhaltensweise von japanischen Männern aber schon lange gewohnt. Sie sind unsicher, wie sie sich mir gegenüber, einer europäischen Frau, und noch dazu in dieser Atmosphäre, wo Frauen sonst meist eine klare Funktion als Unterhalterinnen haben, benehmen sollen. Ich erfahre von Herrn S., daß es einige Zeit nicht üblich war, den als billig verrufenen Reiswein in Bars zu trinken, nun gebe es aber teure Sorten, sogar mit Goldstaub, die man konsumieren könne. Hier wird hauptsächlich Whisky getrunken. Die Rechnung geht normalerweise an die Firma... Ich nippe an meinem Whisky, zünde Herrn S. und mir eine Zigarette an, unterhalte mich mit ihm über unseren Bundespräsidenten Waldheim, die Mehrwertsteuer und über die ergebnislose Suche von Journalisten nach den "gewöhnlichen Menschen". Sie bleiben ohne Gestalt. Vielleicht sind sie Fiktion und existieren nur in der Statistik?
Später bringt mich Herr S. ins Hotel zurück. Ich habe mich entschlossen, gar nicht zu versuchen, den japanischen Dankeserwartungen zu entsprechen, sondern der "Frau Mama" nur einen österreichischen Lavendelpolster in die Hände gedrückt. Als Herr S. beim Abschied meint, ich hätte nichts zu zahlen, er schreibe den heutigen Abend auf die Rechnung seiner Firma, bedanke ich mich. Ich bin froh, daß ich Ausländerin bin und einmal aus dem genau kalkulierten Schema von Geben und Nehmen aussteigen kann.


Die Neujahrskarte, die ich 1988 an die Adresse von Frau M. schicke, kommt zurück. Ebenso mein Brief von Weihnachten 1990. Von Herrn S. erfahre ich im Jänner 1991 folgendes:
Im September 1988, also knapp nach dem Interview, schloß Frau M. unerwartet ihr Lokal. Nachdem sie ein Jahr geschwankt hatte, heiratete sie im Sommer 1990 und führt derzeit ein glückliches Familienleben.

Ruth Linhart | Japanologie | Onna da kara Email: ruth.linhart(a)chello.at