Ruth Linhart | Japanologie | Onna da kara

Mitsuko Morisaki

Zwischen den Geschlechtern eine mit Worten nicht zu überwindende Kluft...
Zur Frauenliteratur der Gegenwart

Morisaki Mitsuko
 

I.

In der Vergangenheit Japans gab es eine Periode, in der die her vorragendsten literarischen Werke von Frauen geschaffen wurden: die Heian-Zeit (794-1185). Damals wünschten die einflußreichen adeligen Familien am Kaiserhof, daß der Kaiser ein Mädchen aus ihren Reihen zur Gemahlin nähme, damit sie in den Genuß einer besonderen Machtposition kamen, wenn der Sohn dieses Mädchens später einmal den Thron besteigen würde. Um ihre Töchter so attraktiv wie möglich zu machen, beauftragten sie unter anderem gebildete Hofdamen mit der Erziehung. In ihren Reihen finden sich viele der bedeutendsten Schriftstellerinnen dieser Epoche, etwa Murasaki Shikibu, die Verfasserin des Genji monogatari (Die Geschichte vom Prinzen Genji), des ersten großen Liebesromanes der Weltliteratur und die Verfasserin des Makura no söshi (Das Kopfkissenbuch), Sei Shönagon.'

Später verlor der Hofadel seine politische Macht an den Krieger stand. In der höfischen Gesellschaft hatten Kultur und Bildung der Frauen zwar den Interessen der Männer gedient, sie hatten aber auch den Frauen selbst zu einer entsprechenden Stellung in der Gesellschaft verholfen. Die vom Kriegerstand geprägte Epoche ließ nur Männer als Kulturschaffende zu, Frauen sprach man jede kulturelle Bedeutung ab. So ging in den sieben auf die Heian-Zeit folgenden Jahrhunderten bis zur Edo-Zeit (1600-1868) dlie Beteiligung der Frauen am literarischen Schaffen immer mehr zurück und kam schließlich fast zur Gänze zum Erliegen. Während dieser Jahrhunderte, insbesondere in der Edo-Zeit, stand die Gesellschaft im Zeichen des konfuzianistischen Prinzips der Nerehrung des Mannes und der Verachtung der Frau (danson johi). Frauen dienten den Männern als Sklavinnen, die durch die Geburt von männlichen Nachfahren für den Fortbestand der Familie sorgten - in der auf die Edo-Zeit folgenden Meiji-Zeit wurde dies als „gute Ehefrau und weise Mutter" (ryösai kenbo) bezeichnet - oder als Sklavinnen, die Männern für ihre sexuellen Vergnügungen zur Verfügung standen - anders gesagt, als Kurtisanen oder Prostituierte. Ein anderer Weg stand den Frauen nicht offen. Erst in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts kam es dann - ausgelöst durch den militärischen Druck von seiten der USA und eropäischer Mächte - zum Sturz des Shögunates. Japan beschritt in der nun folgenden Meiji-Ära (1868-1912) den Weg zu einem neuzeitlichen Staat, aber trotz der damit verbundenen Umwälzungen änderte sich an der unglücklichen Lage der Frauen zunächst wenig. Das Vordringen westlichen Gedankengutes setzte jedoch in der Folge die ersten Bewegungen zur Aufklärung und Bildung der Frauen in Gang. Nun traten auch wieder Schriftstellerinnen mit ihren Werken an die Öffentlichkeit.

Es war Frauen vor dem Zweiten Weltkrieg in der japanischen Gesellschaft allerdings nicht gestattet, einen eigenen Willen zu haben und danach zu handeln. Folglich bedeutete schon der Wunsch, Schriftstellerin werden zu wollen, eine Auflehnung gegen die gesellschaftlichen Normen. Im Rückblick auf das späte neunzehnte Jahrhundert stellt man fest, daß fast alle der heute noch bekannten Schriftstellerinnen dieser Periode nicht nur hervorragendes Talent, festen Willen und große Einsatzbereitschaft benötigten, sondern daß sie zusätzlich noch vom Verständnis ihrer Umgebung unterstützt waren. Sie bildeten sozusagen glückliche Ausnahmen.

Man kann wohl ohne Übertreibung sagen, daß die meisten Literatinnen dieser Periode das traurige Schicksal, das den Frauen allein aufgrund ihres Geschlechts aufgezwungen wurde, zu ihrem Thema machten.
 
II.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, im August 1945, setzte auf Betreiben der Besatzungstruppen eine Demokratisierung ein, die zu Reformen der Verfassung und des Zivilrechtes führte, in deren Zuge auch das traditionelle japanische Familiensystem des ie abgeschafft wurde. Dem Gesetz nach standen nun der Frau die gleichen Rechte zu wie dem Mann. Die rechtliche Gleichstellung allein genügt jedoch nicht, um eine tatsächliche Gleichberechtigung von Mann und Frau herbeizuführen. Selbst heute, mehr als vierzig Jahre später, sind wir von einer wirklichen Gleichstellung der Geschlechter in der japanischen Gesellschaft noch weit entfernt. Für alle sichtbare Veränderungen, wie die Einführung des Wahlrechts für Frauen und die Koedukation, ließen jedoch erkennen, daß ein neues Zeitalter angebrochen war.

Die ersten literarischen Zeugnisse der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg stammten natürlich von der Hand jener Schriftstellerinnen, die schon vor dem Krieg tätig gewesen waren. Ihr Thema war daher die Art und Weise, wie Frauen, deren Weltbild von der Vorkriegszeit geprägt war, auf die neuen Verhältnisse reagierten. 1951 betrat Fumiko Enchi (1905-1986) die literarische Bühne. In ihrem Roman Onnazaka (Ein sanfter Abhang; 1949-57)1 blickt sie auf Liebe und Lebensmuster der Frauen der Vergangenheit zurück. Die Handlung spielt in der Meiji-Zeit. Die Protagonistin Tomo sucht auf den Befehl ihres Mannes für ihn eine Konkubine, die nun gemeinsam mit ihr im Haus lebt. Tomo verbirgt ihr Unglück und dient ihrem Mann weiterhin, obwohl er von ihr erwartet, daß sie für das Wohl der Familie sorgt und ansonsten keine Rücksichten auf ihre Gefühle nimmt. Er stellt seine grenzenlose Rücksichtslosigkeit unter Beweis, indem er sich noch eine weitere Nebenfrau ins Haus nimmt und selbst die Braut seines Sohnes heimlich zu seiner Geliebten macht. Als Tomo, nach langen Jahren der Selbstbeherrschung gealtert, erkennt, daß sie nur noch kurze Zeit zu leben hat, läßt sie ihrem Mann als letzten Wunsch ausrichten, wenn sie tot sei, wolle sie auf keinen Fall ein Begräbnis haben. Sie sei damit zufrieden, wenn er ihre Leiche aufs Meer von Shinakawa hinausbringe und dort einfach ins Meer werfe. Mit diesen Worten bringt sie zum Ausdruck, daß er sie bis dahin wie einen wertlosen Gegenstand behandelt habe und deshalb auch ihre Leiche so behandeln solle. Dadurch erhebt sie zum ersten Mal einen Vorwurf gegen ihren Ehemann. Die unglückliche Geschichte der Tomo entspricht dem klassischen Lebensmuster der japanischen Frau als „gute Ehefrau und weise Mutter".

Man merkt dem Roman an, daß er nach dem Zweiten Weltkrieg geschrieben wurde. So wirkt zum Beispiel der Protest Tomos auf uns sehr beeindruckend; es erhebt sich jedoch die Frage, ob eine Ehefrau der Meiji-Zeit ihren Gatten tatsächlich - und sei es nur ein einziges Mal - so offen kritisiert hätte. Daß es einer Frau überhaupt möglich ist, verbal Widerstand gegen ihren Mann zu leisten, ist ein Gedanke, der in Japan erst durch die Zuerkennung der Menschenrechte für die Frau möglich wurde. Onnazaka sollte in dieser Zeit der großen Veränderungen mithilfe der Begriffswelt der Nachkriegszeit typische Aspekte des Frauenlebens in der japanischen Vorkriegsgesellschaft herausarbeiten und damit ein Requiem für die Frauen von damals anstimmen.

Zehn Jahre nach Kriegsende fanden moderne Frauengestalten Eingang in die Literatur. Große Bedeutung hat hier der Roman Banka (Elegie; 1955-56) von Yasuko Harada (*1928), ein Bestseller dieser Zeit. Die Protagonistin Reiko, eine äußerst selbstbewußte, narzißtische junge Frau, sagt von sich: „Die Fahnen flattern nur für mich im Wind, und die Luftballons steigen nur für mich zum Himmel auf." Nachdem sie ein Verhältnis mit Katsuragi, einem verheirateten Familienvater, begonnen hat, ist ihr einziges Ziel, seine Freundin zu sein. Reiko negiert die herrschende Moral und die Werte der Gesellschaft und handelt nur nach ihrem eigenen Willen. Diesem Verhalten liegen unrealistische Ambitionen, die Unsicherheit und Lebensangst der Jugend zugrunde; es verleiht ihr etwas Dümmliches und läßt sie mit den Gefühlen der anderen spielen und sie verletzen. Die Gestalt der Reiko erregte viel Aufsehen und Kritik. Viele Leserinnen lobten ihren frischen und natürlichen Charme und empfanden Sympathie für sie; andere, vor allem Männer, fanden es dumm, sich von einem solchen Mädchen zum Narren halten zu lassen und übten heftige Kritik an dem Werk. Yasuko Harada und die Heldin ihres Romans erlangten große Bekanntheit. Weniger Erfolg hatte eine andere Autorin, die aufgrund des Unverständnisses und der Angriffe männlicher Kritiker fünf Jahre warten mußte, bis ihre Werke literarischen Anklang fanden: Harumi Setouchi (*1923). Ihr Roman Kashin (Stempel und Staubgefäße; 1957) wurde vernichtend kritisiert. Es hieß, er beschreibe den Umwandlungsprozeß einer gewöhnlichen Hausfrau in eine Prostituierte und sei nichts weiter als sensationslüsterne Pornographie. Für die damalige Zeit war es äußerst ungewöhnlich, daß eine Frau das Thema Sexualität offen behandelte. Der herrschenden Meinung zufolge, stand es dem Mann zu, in sexuellen Angelegenheiten die Initiative zu ergreifen; die Frau hatte eine passive Rolle. Daher war es auch für eine Schriftstellerin unschicklich und skandalös, über Sex zu schreiben; eine Frau, die über solche Dinge sprach, wurde automatisch als unmoralisch abgestempelt. Dies galt auch für Harumi Setouchi.

Ein weiterer Grund für die Ablehnung war, daß seine Aussage eine Auflehnung gegen das traditionelle Bild der Frau, der Familie und Sittenreinheit bedeutete. Die Protagonistin Sonoko bleibt mit ihrem Körper ihren Gefühlen treu. Als sie für einen anderen Mann als ihren Ehegatten Liebe empfindet, kann sie dessen sexuelles Verlangen nicht mehr erwidern und läßt sich von ihm scheiden. Als sie das erste Mal in intimen Kotakt mit dem Mann, den sie liebt, tritt, muß sie jedoch feststellen, daß ihre Liebe erlischt. Zuletzt stellt sie sich die Frage, ob es überhaupt möglich sei, treu zu sein, wenn man, wie sie, niemanden liebt; und so sucht sie erotische Abenteuer mit einer Reihe von Liebhabern. Ihr Verhalten ist im Grunde genommen ausgesprochen ethisch, entspricht aber nicht den herrschenden Vorstellungen von weiblicher Moral und Sittlichkeit. Daher paßt sie nicht mehr in das Schema einer guten Ehefrau und Mutter und wird als Hure angesehen.

Für Prostituierte ist es nicht typisch, zum sexuellen Vergnügen Affären mit immer neuen Partnern zu haben. Legt eine Frau ein solches Verhalten an den Tag, wird sie jedoch als Hure bezeichnet. Diese Diskrepanz der von der Gesellschaft angelegten Maßstäbe zeigt Setouchis Roman auf.

Nicht allen Schriftstellerinnen der fünfziger Jahre wurde von der männlich dominierten Literaturszene ein so kühler Empfang bereitet wie Harumi Setouchi oder Yasuko Harada. Ayako Sono (*1931) und Sawako Ariyoshi (1931-1984), die kurz nacheinander ihr literarisches Debut hatten, wurden so begeistert aufgenommen, daß man sogar von einer Hochblüte der Frauenliteratur sprach. Möglicherweise hatte dies damit zu tun, daß ihre Werke im Gegensatz zu denen Haradas oder Setouchis für das Ego der Männer keine Bedrohung darstellten, wenngleich sie auch ein neues Frauenbild beschrieben.

Ayako Sono machte sich mit Enrai no kyakutachi (Gäste aus der Ferne; 1954) in der literarischen Welt einen Namen. Im selben Jahr wurde auch Babiron no shöjoichi (Der Jungfrauenmarkt von Babylon) veröffentlicht. Der Protagonistin Taeko wird bei einem Treffen mit einem Heiratskandidaten bewußt, daß sich bei einer arrangierten Heirat die Frau genauso wie bei der Prostitution um ihres Lebensunterhaltes willen verkauft. Da scheint es noch günstiger, selbst seinen Preis bestimmen zu können. Es ist charakteristisch für Sono, daß sie nicht versucht, sich den Werten der Gesellschaft anzupassen, sondern daß sie mit scharfem Blick verborgene Wahrheiten sichtbar machen will. In ihrem Roman sind kaum mißhandelte Frauen voller Verbitterung und Minderwertigkeitsgefühle anzutreffen; auch in dieser Hinsicht ist sie eine ungewöhnliche Erscheinung unter den Schriftstellerinnen dieser Periode.

Sawako Ariyoshi hatte 1956 ihr literarisches Debut; sie schrieb anfangs Romane, die in der Welt des klassischen japanischen Theaters und der traditionellen Musik spielten, machte aber dann das Leben der Frauen zu ihrem Hauptthema, das sie in historischen Romanen behandelte. Der bekannteste ist Hanaoka Seishü no tsuma (Die Gattin des Hanaoka Seishü; 1966).' Hanaoka Seishü (1760-1835) war ein Arzt der späten Edo-Zeit, der weltweit als erster erfolgreiche Brustkrebsoperationen durchführte. Die Hauptfigur des Romans ist nicht er selbst, sondern seine Frau Kae. Seishüs Mutter Otsugi hat sie als die Braut ihres Sohnes ins Haus geholt, während er selbst im Zuge seiner medizinischen Studien abwesend ist. Kae empfindet große Bewunderung für die schöne und kluge Otsugi. Sie ist sozusagen mehr die Braut der Familie Hanaoka als die Seishüs., dem sie noch nicht einmal begegnet ist. An die Stelle der anfänglich guten Beziehung zwischen Schwiegermutter und -tochter tritt jedoch mit Seishüs Rückkehr ein geheimer Kampf um seine Liebe, auf die jede der beiden Frauen alleinigen Anspruch erhebt. Sie überbieten einander in aufopfernder Fürsorge für Seishü, bis sie sich ihm zuletzt sogar als Versuchspersonen für seine Experimente mit Narkotika zur Verfügung stellen. Kae geht als Siegerin aus dem Kampf hervor, als sie Seishü einen Sohn schenkt; allerdings ist sie durch eine Überdosis eines Betäubungsmittels erblindet.

Die hier dargestellte schweigende Rivalität von Schwiegermutter und Schwiegertochter ist ein für die traditionelle japanische Famile typisches Phänomen. Die Schwiegertochter wird nicht als Ehefrau des Sohnes betrachtet, sondern als eine Außenstehende, die alte Familienmitglieder zu bedienen hat und deren wichtigste Aufgabe es ist, einen Sohn zur Welt zu bringen und damit den Fortbestand der Familie zu sichern. Da im feudalistischen Gesellschaftssystem die Beziehung zwischen Mutter und Sohn sehr stark war, jene zwischen dem Mann und seiner Gattin aber nicht als Partnerschaft angesehen wurde, hatte die Schwiegertochter die schwächere Position und war gezwungen, ihr Los geduldig zu tragen. Für Kae trifft dies nach Ariyoshis Schilderung nicht zu, wie ein Vergleich mit Fumiko Enchis Onnazaka anschaulich macht. Auch Tomo dient ihrem Ehemann und sorgt für seine Familie, aber die Art und Weise, wie sie dies tut, ist gänzlich passiv, während Kae und Otsugi sich in ihrem Kampf um Seishüs Liebe aktiv für seinen beruflichen Erfolg aufopfern. Seishüs Erfolg und das Wohlergehen seines Hauses wurde also durch die Unterstützung dieser Frauen ermöglicht. Natürlich ist unbekannt, ob die historische Gattin eine solche Persönlichkeit war wie Ariyoshi sie in ihrem Roman darstellt. Die Absicht der Autorin mag aber wohl vor allem darin gelegen sein, auf die von Historikern allzu oft vernachlässigten Beiträge der Frauen zu den Errungenschaften der japanischen Geschichte hinzuweisen.
 
III.

Die sechziger Jahre brachten tiefgreifende Veränderungen in der Frauenliteratur, wie ein Vergleich mit den um 1955 entstandenen Werken deutlich macht. Die Schriftstellerinnen der fünfziger Jahre hatten sich entweder gegen die traditionelle Rolle der Frau als Ehefrau und Mutter aufgelehnt, oder zwar die Rolle an sich gebilligt, sich aber in diesem Rahmen selbst behauptet. Ihre im Stil eines die Wirklichkeit photographisch abbildenden Realismus verfaßten, erzählerisch meisterlichen Werke fanden Anklang bei einem großen Publikum.

Dagegen befaßten sich jene Schriftstellerinnen, die nur fünf Jah>re später die literarische Bühne betraten, kaum direkt mit dem Thema „Frau in der Gesellschaft". Der bis dahin nach außen gerichtete Blick wird nun dem eigenen Seelenleben zugewandt. Dies war der allgemeine Trend der damaligen Literatur und er hatte seine Entsprechung im Wandel von einer instabilen zu einer stabilen Gesellschaftsordnung. Nach wie vor sind die Frauen starken gesellschaftlichen Zwängen unterworfen, aber der Widerstand gegen diese Schranken ist nun indirekt. Die Aufmerksamkeit gilt den psychischen Vorgängen in der schreibenden Frau und der literarischen Aufarbeitung des Innenlebens. Die Welt des eigenen Bewußtseins, der Phantasie, der Träume, des Unterbewußten ist es, die jetzt geschildert wird und auch der Stil rückt vom Realismus ab.

Romane dieser Art entsprechen nicht mehr dem Geschmack eines breiteren Publikums.

Yumiko Kurahashi (* 1935) erregte mit ihrem ersten Werk Parutai (Die Partei; 1960) Aufsehen in Literaturkreisen. Dieser abstrakte Roman, in dem der Einfluß von Kafka, Camus und Sartre zu spüren ist, führte dem männlichen Literaturestablishment erstmals vor Augen, daß auch Frauen intellektuelle Romane schreiben können. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten die meisten Schriftstellerinnen realistische Eindrücke wiedergegeben, die eher dem Bereich ihrer eigenen physischen Erfahrungen zuzuordnen waren, und so war der Eindruck entstanden, diese Romane hätten mit intellektuellem Schreiben wenig zu tun. Die männlichen Kollegen hatten zwar zum Großteil nicht anders gearbeitet, aber sie mußten ihren Intellekt nicht erst unter Beweis stellen, da einem allgemeinen Vorurteil entsprechend die Meinung herrschte, Männer wären eben intellektuell, Frauen hingegen nicht.

Die Protagonistin von Parutai ist eine Studentin, die sich ihrer Unsicherheit bezüglich ihrer Gefühle schämt und Klarheit sucht. Erfahrungen mit der Sexualität macht sie, als sie mit einer „Neugier, wie man sie für ein unbekanntes Tier verspürt", den Körper eines Arbeiters berührt. „Der Arbeiter war überrascht und auch er zeigte nun Interesse an mir; bald machte er seinerseits einen Annäherungsversuch und sein Atem ging in heißen, wilden Stößen, als er sich darum bemühte, von mir geliebt zu werden." Als er sie später einmal sieht und ihr nachgeht, stellt sie ihm genaue Fragen, um festzustellen, in welcher Beziehung er zu mir steht". Als er ihr erklärt, daß er sie heiraten und mit ihr Kinder haben möchte, weist sie das als lächerlich zurück. Hier wird das genaue Gegenteil des herkömmlichen sexuellen Verhaltens geschildert, bei dem der Mann die Initiative ergreift und die Frau eine passive Rolle spielt. Die Icherzählerin handelt autonom. Für sie ist Sex nichts anderes als eine spontane, auf die physiologischen Dimensionen beschränkte Verbindung, die in keinem Zusammenhang mit Liebe oder Ehe steht. Das Verhalten des Mannes beim Sexualverkehr wird humoristisch geschildert. Kurahashi verkehrt offenbar die zeitgenössischen Verhaltensmuster in den Beziehungen zwischen Mann und Frau ins Gegenteil. Diese Art und Weise der unrealistischen, verfremdenden Darstellung der Welt ist an sich schon eine radikale Kritik an der Realität.

Eine weitere Schriftstellerin, die sich in irreale Welten zurückzog, ist Mari Mori (1903-1987). Sie war die älteste Tochter des bekannten Schriftstellers der Meiji- und Taishö-Zeit Ögai Mori (1862-1922). Sie begann 1961, im Alter von fast sechzig Jahren, Romane zu schreiben. Bei vielen ihrer Werke handelt es sich um stark von der französischen Literatur beeinflußte ästhetizistische Liebesromane. Allerdings beschreibt Mori nicht die gewöhnliche Liebe zwischen Mann und Frau, sondern die homosexuelle Liebe zwischen Männern oder Beziehungen zwischen Vater und Tochter. Es scheint fast, als könnte ihrer Meinung nach zwischen Mann und Frau keine Liebesbeziehung entstehen, die es verdient, als ästhetisch bezeichnet zu werden. In Koibitotachi no mori (Der Wald der Liebenden; 1961) zum Beispiel muß die nicht mehr junge Frau Ueda, die ihre Schönheit verloren hat, erkennen, daß sich ihr Geliebter Gido dem schönen Jüngling Paulo zugewandt hat. Sie erschießt Gido aus Eifersucht, scheitert aber am Selbstmord. Sie ist eine erbärmliche, an der Liebe zerbrochene Kreatur. Dagegen ist Paulo ein schöner, aber grausamer Narziß, der, selbst während er die Zuneigung Gidos genießt, auf die Verführungen eines anderen Mannes ohne weiteres eingeht. An die Stelle der Verbindung eines Mannes und eines schönen Jünglings tritt in Amai mitsu no heya (Das Zimmer des süßen Honigs; 1967-75) die Beziehung zwischen einem Vater und seiner bezaubernden Tochter. Der Vater, Rinsaku Mure, liebt seine Tochter

Moira abgöttisch und erzieht sie zu seinem Ideal, sodaß sie einen Zauber besitzt, der die Männer fasziniert; sie spielt mit den Gefühlen ihres Ehemannes und anderer Männer.

Wird eine Frau erwachsen und nimmt die von der Gesellschaft vorgeschriebenen Rollen als Ehefrau und Mutter auf sich, wird sie damit ihrem Mann untertan. Eine solche Frau würde als Hauptfigur nicht in Mari Moris Welt der Schönheit passen. Dort herrschen junge, noch nicht zu Erwachsenen gereifte Menschen, ohne feste Rolle in der Gesellschaft.

Takeo Köno ("1925) beschreibt in ihren Romanen, anders als Yumiko Kurahashi oder Mari Mori, nicht eine eher außergewöhnliche Welt, sondern sie flicht in die Welt des Alltags außergewöhnliche Phantasien ein. In Yöjigari (Kinderjagd; 1961)' gerät Akiko, die kleine Mädchen haßt.und dafür eine Vorliebe für kleine Jungen hat, in Ekstase, wenn sie sich ausmalt, wie Knaben von ihren Vätern gezüchtigt werden. In diesen Tagträumen ist es natürlich Akiko, die die Väter zur Bestrafung zwingt, aber gleichzeitig identifiziert sie sich auch mit den mißhandelten Knaben. Durch die Züchtigung rächt sie sich dafür, daß sie, die kleine Jungen so liebt, selbst keiner sein durfte, und durch das Erleiden der Mißhandlung versucht sie sich mit dem Objekt ihrer Anbetung zu identifizieren. Unter normalen Umständen könnte Akiko ihre Liebe für Jungen ausleben, indem sie ein Kind zur Welt bringt, aber sie kann aufgrund einer Krankheit keine Kinder bekommen. So schwelgt sie in ihren Phantasien und läßt beim Sexualverkehr mit Männern ihrem Masochismus freien Lauf.

Viele der Protagonistinnen in Könos Romanen sind unfruchtbar. Im Japanischen gibt es dafür das Wort „umazume", mit den Zeichen für „Stein" und „Frau" geschrieben. In einem Land, in dem der einzige Wert einer Frau in ihrer Funktion als Ehefrau und Mutter begründet lag, war eine Frau, die kein Kind gebären konnte, wertlos, ja sogar leblos wie Stein. Die Hauptfiguren in Könos Romanen machen im Gegensatz dazu ihre Unfruchtbarkeit zu einer Waffe und geben sich aktiv der Sexualität hin. Auch die masochistischen Praktiken der Akiko in Yöjigari werden ihr keinesfalls von ihren Partnern aufgezwungen: Sie selbst sucht sich Männer aus, die ihren Vorlieben entsprechen und übt somit auf sexuellem Gebiet Selbstbestimmung aus. Mit einem Wort, die Vollwertigkeit als Frau hängt hier nicht mehr von der Mutterschaft ab, sondern verlagert sich auf die Freude am Sex. Auf den ersten Blick mag die von Köno beschriebene Sexualität ungewöhnlich wirken, aber es handelt sich um eine realistische Darstellung einer anderen Rolle der Frau in der Gesellschaft.
 
IV.

Die Schriftstellerinnen der siebziger Jahre übernahmen die von Takeo Köno thematisierten Problemkreise und führten sie weiter aus. Bei-Köno können die Hauptfiguren keine Kinder in die Welt setzen. Jetzt werden die Einstellungen der Frauen untersucht, die es könnten.

Frauen können Kinder zur Welt bringen, und zwar nicht nur die Kinder eines einzigen, sondern jedes beliebigen Mannes. Absicht in einer patriarchalischen Gesellschaftsordnung ist es, Gewißheit zu haben, welcher Mann der Vater des Kindes ist. Der Mann erhebt absoluten Anspruch auf eine Frau und verschließt sie in seinem Haus, damit sie ihm - und nur ihm - Kinder gebären kann. Tugend und Treue werden nur von der Frau gefordert. Dann wird lautstark der Wert der als Instinkt bezeichneten Mutterliebe verkündet und das Idealbild der sich für ihre Kinder aufopfernden Mutter propagiert, bis sich in der Gesellschaft die Vorstellung durchgesetzt hat, nur eine Mutter sei eine vollwertige Frau. Auch die Frauen selbst glaubten daran, insbesondere da sie sich durch die Mutterschaft einen Platz in der Gesellschaft sichern konnten. Hinzu kommt noch, daß sie, selbst wenn sie gerne die Mutterschaft verweigert hätten, ohne Empfängnisverhütungsmittel gar keine Möglichkeit dazu hatten.

Auch unter den Schriftstellerinnen gibt es solche, die wie etwa Sawako Ariyoshi die größte Tugend der Frau in der Mutterschaft sehen. In Ariyoshis Roman Kino kawa (Der Ki-Fluß; 1959) ist dies anhand dreier Generationen von Frauen demonstriert. Versucht eine Frau, als autonomer Mensch ihr Leben zu bestimmen, kann sie die Mutterschaft leicht als Zwang empfinden. Es ist nicht weiter verwunderlich, wenn in ihr der Wunsch entsteht, aus diesem Zwang auszubrechen. So finden sich in den Werken der Schriftstellerinnen der siebziger Jahre immer wieder Themen wie Mutterhaß, Verweigerung der Mutterschaft, Kindeshaß oder Kindestötung. -

Minako Oba (*1930) begann ihre literarische Karriere mit Sanbiki no kani (Drei Krabben; 1968). In diesem Werk äußert ein Mann die Meinung, im zwanzigsten Jahrhundert sei die Schwangerschaft kein Symbol der Fruchtbarkeit mehr, sondern der Sterilität und der Zerstörung. In Funakuimushi (Schiffsbohrwürmer; 1969) wird das Kinderkriegen als ernstes Problem dargestellt. Die Handlung spielt in einer fiktiven Gegend, wo fast nur impotente Männer und unfruchtbare Frauen leben und wo daher kaum Kinder geboren werden. Der Protagonist ist ein Mann, der aus Haß und Widerstand gegen die Gesellschaft ohne Lizenz Abtreibungen durchführt und zum Zeitpunkt der Handlung gerade als Blumenverkäufer in einem Hotel arbeitet. Er ist der Ansicht, es sei angesichts des Weltunterganges unverantwortlich, Kinder in die Welt zu setzen. Als die Hotelbesitzerin schwanger wird, beschimpft er sie mit den Worten, Mütter seien die widerwärtigsten Frauen.
 
Nirgends zeigt sich der Egoismus einer Frau so schamlos wie bei einer Mutter. Sie hält sich selbst für bescheiden, aber sobald sie Mutter wird, bricht der Egoismus, den sie bisher Tag für Tag in bewundernswerter Weise unterdrückt und verborgen hat, unter dem schönen neuen Namen der Mutterliebe hervor und reißt die Herrschaft an sich.
 

Die Hotelbesitzerin hatte Verhütungsmittel benutzt und mit verschiedenen Männern geschlafen, aber sie wird von einem Gefühl der Leere überwältigt und beschließt, ein Kind zu bekommen, um ihre Existenz gegenüber den anderen zu bestätigen. Die Vaterschaft soll nicht zuordenbar sein: Sie ist von keinem Mann abhängig und schenkt nicht einem Mann ein Kind, sondern nimmt für sich das Recht in Anspruch, ohne Rücksicht auf den Vater ganz allein selbst zu bestimmen, ob sie ein Kind zur Welt bringen will. Diese Einstellung wurde durch sichere Verhütungsmittel möglich. Es mag etwas überraschend sein, die Pille bereits zu einem so frühen Zeitpunkt -1969 - als sie in Japan noch nicht erzeugt wurde, in der japanischen Literatur zu finden. Das läßt sich allerdings leicht durch den Umstand erklären, daß Öba damals in den Vereinigten Staaten lebte.

Taeko Tomioka (*1935) begann ihre literarische Laufbahn als Dichterin. 1971 schrieb sie ihren ersten Roman, Oka ni mukatte hito narabu (Sie stehen dem Hügel in einer Reihe gegenüber). Das Werk spielt in Ösaka vor dem Zweiten Weltkrieg, im Milieu der einfachen Leute. Eine Ehefrau schenkt ihrem Gatten sechs Kinder; insgeheim haßt sie ihn aber dafür, daß er sie als Gebärmaschine betrachtet. Mit dem Thema des Mutterhasses setzt sich Tomioka dann in Shokubutsu sai (Das Pflanzenfest; 1973) auseinander. Natsuki, ein junger Mann, erfährt, daß seine ältere Schwester in Wahrheit seine Mutter ist. Seit er das weiß, versucht sie ihn zu einer Mutter-Kind-Beziehung zu bewegen, die er aber ablehnt. Er will sie verlassen, während sie alles versucht, um ihn an sich zu binden. Er sieht sie als eine „Hexe". Vom Standpunkt des Sohnes wird hier der Egoismus einer Mutter kritisiert, die ihr Kind zuerst weggibt und dann glaubt, nur deshalb, weil sie es geboren hat, einen Anspruch auf dessen Leben zu haben.

Der umgekehrte Fall, in dem eine Mutter ihr Kind haßt, wird von Takako Takahashi (*1932) in ihrem Werk Söjikei (Ähnliche Figuren; 1971) geschildert. Akiko betrachtet ihre Tochter feindselig als eine „kleinere Ausgabe meiner selbst", die „immer in meiner Nähe ist, das gleiche fühlt und sich gleich benimmt wie ich". Eine ähnliche Situation beschreibt Takahashi in Sora no hate made (Bis an das Ende des Himmels: 1973). Die Protagonistin Hisao fühlt selbst, während sie ihrem Baby die Brust gibt, daß ihr ein „Ungeheuer mit dunkelroter Haut die Lebenskraft aussaugt". Ihr Haß richtet sich nicht nur gegen ihr Kind, sondern auch gegen ihren Mann: „Allein schon deshalb, weil sie nahe bei mir existieren, muß ich sie aus irgendeinem Grund hassen." Als ihr Haus während des Krieges bei einem Luftangriff in Brand gesetzt wird, schickt sie ihren Mann wieder hinein, um das Baby zu holen, das sie zurückgelassen hat, und die beiden kommen in den Flammen um. Hisaos Haß entspringt einem übersteigerten Selbstbewußtsein. Wer versucht, er/sie selbst zu sein, fühlt sich durch andere Personen bedroht, und zwar umso stärker, je näher sie ihm/ihr stehen. In Hisaos Fall sind das ihr Ehemann und ihr Baby.

Die Schilderung des Hasses zwischen einer Mutter und ihrem Kind stellt nichts anderes dar als eine Auflehnung gegen die althergebrachte japanische Gesellschaftsordnung.

Allerdings ist auch die Tatsache nicht zu leugnen, daß die Frauen von der Natur dazu bestimmt sind, Kinder zur Welt zu bringen. Daher folgte auf die Darstellung des Kindes- und Mutterhasses wieder eine positivere Einstellung zur Mutterschaft. Hierbei handelt es sich jedoch nicht um eine Rückkehr zur Verherrlichung des traditionellen Mutterbildes, sondern um neue Vorstellungen darüber, was Mutterschaft bedeutet. Auch die Beziehung zum Mann als Vater des Kindes ist nun eine andere.

Yüko Tsushima ("1947) ist die zweite Tochter des Schriftstellers Osamu Dazai (1909-1948). Die Hauptfigur ihres Romanes Chöji (Das Glückskind: 1978), Köko, verdient nach ihrer Scheidung selbst ihren Lebensunterhalt und zieht ihre Tochter alleine groß. Sie hat ein Verhältnis mit einem Mann namens Osada und stellt fest, daß sie schwanger ist. Der Vater des Kindes ist ihrer Meinung nach vollkommen nebensächlich und unbedeutend, und sie entscheidet sich dafür, das Kind für sich selbst zur Welt zu bringen. Folgendes Ereignis gibt den Ausschlag: Während des Verkehrs mit Osada hatte sie einen kurzen Augenblick lang das Gefühl verspürt, die Bewegung eines Himmelskörpers in ihrem Körper aufgefangen zu haben - ein Himmelskörper, der sich in ihrer Gebärmutter zu bewegen begann.

Während Köko die Freude der Nähe zu einem anderen Menschen sucht, ist es bei ihm nur die sinnliche Lust. Daher empfindet sie im Augenblick der Empfängnis die Vereinigung mit einem Wesen des Weltraums und bringt den Mann Osada damit nicht in Verbindung.

Sie spricht auch von einer „jungfräulichen Empfängnis". Und vielleicht weil es eine solche „jungfräuliche Empfängnis" ist, stellt sich am Ende heraus, daß es nur eine Scheinschwangerschaft war. Kazuko Saegusa (*1929) stellt in der Frau ein Nebeneinander von Eigenschaften der Hure und der Mutter fest. Sie will die alte Einteilung der Frauen in die eine oder andere Sorte überwinden. Was sie unter einer „Hure" versteht, ist nicht wie im herkömmlichen Sinne eine Frau, die für Geld dem Mann sexuelle Freuden bietet, sondern eine Frau, die sich keinem Mann zugehörig fühlt, die aber dennoch ein Verhältnis mit einem Mann hat, Zuneigung für ihn empfindet und zu ihm steht. Die Heldin ihres Renai shosetsu (Liebesroman; 1978) denkt darüber wie folgt:
 
Wenn ich einen Mann umarme, kommen mir manchmal fast die Tränen. Während ich beobachte, wie er ungeschickt, aber dennoch eifrig, meinen Körper betastet, erfüllt mich eher Mitgefühl als Lust.
 

Die Zeit von der Empfängnis im Körper einer solchen Frau über die Schwangerschaft, die Geburt und das Stillen bis zur Entwöhnung betrachtet Saegusa als Mutterschaft. Auch dieser Begriff unterscheidet sich von der herkömmlichen Verwendung. In Hanmangetsu nado sora ni kakatte (Ein Halbmond und anderes hängt am Himmel; 1985) wird Mioko, die immer wieder mit flüchtigen Männerbekanntschaften ins Bett geht, schwanger. Sie sagt, da sie nicht wisse, wer der Vater ist, wolle sie das Kind bekommen. Umgekehrt ausgedrückt bedeutet das, daß sie es nicht zur Welt bringen würde, wenn ihr der Vater bekannt wäre. Diese Einstellung beruht auf einer Negation des herkömmlichen Zustandes, daß der Mann die Frau beherrscht, um von ihr Kinder seines eigenen Geblüts zu bekommen.

Saegusas Anschauungen scheinen in dieser Hinsicht denen der Hotelbesitzerin in Minako Öbas Funakuimushi zu entsprechen. Allerdings präsentiert sich Öbas Werk als eine Fabel, während Saegusa zehn Jahre später eine Frau mit dieser Einstellung realistisch schildert, ohne der Wirklichkeit Zwang anzutun.
 
V.

Bei Schriftstellerinnen wie Yüko Tsushima wird das Kräfteverhältnis zwischen Mann und Frau umgekehrt; das kann als allgemeine Kräftetendenz in der Frauenliteratur der jüngeren Zeit gelten. Bis dahin hatten die Autorinnen in ihren Romanen das Weggehen von den traditionellen Vorstellungen über Ehe und Mutterschaft propagiert. •n den achtziger Jahren unseres Jahrhunderts scheint dieses Ziel so gut wie erreicht zu sein. Wenn daher nun Beziehungen dargestellt werden, in denen das Kräfteverhältnis zwischen Männern und Frauen ins Gegenteil verkehrt zu sein scheint, bedeutet dies nicht, daß die Frau auf den Mann herunterblickt, sondern nur, daß sie ihm in Denkweise und Verhalten gleichgestellt ist. Männer sehen darin allerdings häufig den Versuch der Frau, sich über den Mann zu erheben. Frauen, die sich ihrem Partner gleichgestellt fühlen, bemerken dann, daß sie mit ihm nicht wirklich reden können.

In Taeko Tomiokas Roman Nami utsu tochi (Das wogende Land; 1983) hat die Protagonistin Tomoko eine körperliche Beziehung mit einem Mann: Da sie "mit Worten nicht mit einem Mann sprechen kann", strebt sie „die Kommunikation auf dem Wege des Geschlechtsverkehrs" an. Sie kann sich ihm verbal nicht mitteilen, weil er unterdurchschnittlich intelligent ist und, ohne es zu merken, in leeren Floskeln redet. Der Mann selbst schläft nur um der sexuellen Lust willen mit der Frau, glaubt aber, sie sei von seiner Attraktivität und seinem Charakter fasziniert. Tomoko interessiert sich jedoch, wie das sonst Männer gegenüber Frauen tun, nur für seinen Körper und ignoriert seine menschlichen Qualitäten; auf diese Weise bringt sie Aggression ihm gegenüber zum Ausdruck.
 
Wenn er für den Geschlechtsverkehr Geld verlangt hätte, hätte ich es ihm gegeben. Aber er war ein Amateur, und so hielt ich meine plötzlich auf-steigende Begierde zurück und schmückte die Sache etwas aus. Auf einmal sagte er, lassen wir die Formalitäten und machen wir's schnell.
 

Wie das sonst Männer mit ähnlich agierenden Frauen tun, läßt Tomoko den „dummen Großen" bald sitzen.

Ist eine Kommunikation mit Worten unmöglich, so tut sich zwischen dem Mann, der nur die gängige Einstellung zum Sex hat, und der Frau, die diese Art der Kommunikation letzlich als Illusion erkennen muß, eine kaum zu überbrückende Kluft auf.

Tomioka setzt sich mit diesem Thema noch einmal in Suijü (Das Wassertier; 1984) auseinander. Hier begegnen wir Higashida, einem Universitätsprofessor in mittleren Jahren, der wie ein „hochmütiges, unwissendes Kind" ist und an ein im Wasser lebendes, schlüpfriges Tier erinnert. Seine Familie kann ihn nicht leiden und wirft ihn aus dem Haus, aber er begreift nicht, daß seine Frau ihn verabscheut, kehrt schließlich zurück und vergewaltigt sie. Zuletzt wird er von seiner Tochter als „Abschaum der Menschheit" beschimpft. In gewisser Weise ist er bedauernswert, aber das trifft ebenso für die Frau zu, die mit einem solchen Mann leben muß. Am Ende fällt einer Bekannten, Yumiko, auf, daß sie bei Higashidas Worten nicht mehr das gleiche unangenehme Gefühl verspürt wie bisher. Das kommt daher, daß sie sich nichts mehr von Worten erwartet.
 
Ihr schien, daß man mit Worten nicht getröstet werden oder trösten konnte, daß einem damit nicht gehoffen werden und man nicht damit helfen konnte. Einzig das Schweigen schien erstrebenswert.
 

In diesen Worten schwingt eine fast nihilistische Verzweiflung über die Unmöglichkeit, sich mit den Menschen dieser Welt, wie sie durch Higashida repräsentiert werden, mithilfe der Sprache zu verständigen.

Auch Minako Öba bringt in Katachi mo naku (Ohne Form; 1982)1 die Auffassung zum Ausdruck, daß kein Mensch den anderen wirklich verstehen kann. Die Protagonistin Mayuko ist zusammen mit ihrem Jugendfreund Haku, dem Sohn ihrer Nachbarn, aufgewachsen. Beide heiraten später einen anderen Partner. Nachdem aber Mayukos Ehemann und Hakus Frau bei einem Unfall während eines Rendezvous ums Leben gekommen sind, dringt Haku durch den zerstörten Gartenzaun in ihr Zimmer vor, um bei ihr Zuflucht zu suchen, und die beiden leben danach fast wie Lebensgefährten zusammen.
 
Mayuko hatte nicht die Absicht, Haku zu heiraten. Auch in der Ehe hat wohl jeder seine eigenen Gedanken und will sie denken; es genügte, einen Menschen des anderen Geschlechts zu haben, dessen Nähe man aufsuchen konnte, wenn man manchmal einsam war.
 

Daß der Zaun, der die beiden Häuser voneinander abgrenzt, zerstört wird, deutet auf die Auflösung von Formen wie Ehe und Familie hin. Öba scheint zu sagen, daß Mann und Frau, auch wenn Systeme zerfallen und die Menschen einander nicht verstehen können, einander gerade aus der dadurch verursachten Einsamkeit heraus brauchen.

Auch für die Schriftstellerinnen jener Generation, die nach dem Krieg geboren wurde, ist es selbstverständlich, daß zwischen den Geschlechtern eine nicht mit Worten zu überbrückende Kluft besteht. Denken wir nur an die Protagonistin von Yüko Tsushimas Chöji, die, verärgert über die gewöhnliche Ausdrucksweise der Männer, beim Mann nur die Wärme des anderen Lebewesens sucht; ihr Verhalten wird jedoch von ihm ausschließlich als sexuelles Verlangen interpretiert. Kei Nakazawa ("1959) schildert in Umi o kanjiru toki (Wenn ich das Meer spüre; 1978) einen ähnlichen Sachverhalt. Emiko möchte nur „in den Arm genommen werden", aber ihr Partner und ihre Mutter verstehen dies nicht. Er verachtet sich selbst dafür, seiner Begierde erlegen zu sein, empfindet ihr gegenüber Widerwillen und verläßt sie. Ihre Mutter kritisiert ihr Verhalten als unanständig.

Mizuko Masuda ("1948) behandelt in ihren Werken immer wieder die Isolation der Menschen. Der Protagonist von Shinguru seru (Single Cell; 1986) ist ein Student namens Mikio Shüba, der im Rahmen seiner Dissertation Einzelzellen untersucht. Mikio selbst ist in gewisser Weise einer solchen Zelle ähnlich, da er keine Familie oder Angehörigen hat. Eines Tages dringt Ryöko, die ebenfalls Einzelgängerin ist, in seine Wohnung ein. Sie sagt, je mehr Worte man mache, desto weniger teile man mit, und deshalb kämen für sie Gespräche nicht in Frage. Schließlich geht sie mit den Worten, es habe ihr geholfen, an seiner Seite zu sein, da er sie nicht beachtet habe; jetzt habe er jedoch aufgehört, sie zu ignorieren.

Dieses Werk ist bemerkenswert, weil die Personen nicht miteinander reden können, dies auch gar nicht wollen. Ihnen ist die Isolation natürlich; sie erwarten sich nichts vom Umgang mit anderen Menschen und verwehren diesen den Zutritt zu ihrem Inneren. Wenn man den unerfüllten Wunsch nach Kommunikation einer animalischen Stufe zuordnen wollte, so befänden sich die in diesem Roman dargestellten Personen auf der Stufe der Pflanze. Die japanischen Schriftstellerinnen der Gegenwart schildern jedoch nicht nur die Kommunikationsunfähigkeit. Eimi Yamada ("1959) zum Beispiel beschreibt in ihrem Roman Beddotaimu aizu (Bedtime Eyes; 1985) die Liebesbeziehung zwischen Spoon, einem desertierten schwarzen Soldaten der amerikanischen Armee, und der Hauptfigur Kim. Diese Liebe ist zunächst rein physisch: „ Spoon ist sehr zärtlich zu mir. Allerdings liebt er nur meinen Körper, ganz bestimmt nicht meine Seele." Besonders ist an dieser Beziehung, daß die beiden das sie verbindende physische Vergnügen so intensiv wie nur möglich erleben wollen. Als Spoon nach einiger Zeit einmal mit einer anderen Frau schläft, wird dies zum Anlaß dafür, daß die beiden zum ersten Mal „nicht nur mit dem Körper, sondern auch mit Worten" miteinander sprechen, und er erklärt Kim seine Liebe, indem er sagt, er fühle, daß seine ganze Person nur für sie geschaffen wurde. Die Liebesbeziehung wird jedoch beendet, als Spoon verhaftet wird.

Eimi Yamada schildert die Liebe, aber in diesen Beziehungen treten kaum japanische Männer auf. Der Grund dafür wird in Häremu wärudo (Harlem World; 1987) angedeutet. Die Protagonistin Sayuri erinnert sich an ein unerfreuliches Erlebnis mit dem Japaner Kobayashi. Nachdem er mit ihr geschlafen hatte, befahl er: „Tee!" Sie, die meistens von ausländischen Geliebten verwöhnt und umsorgt wird, versteht nicht, was er damit meint.

Später spricht er zu einem seiner Freunde, der Sayuris Schönheit bewundert, abfällig über sie und prahlt damit, daß sie ihm gehöre. Als sie ihn daraufhin wütend verläßt, haßt er sie und will sie umbringen. Durch ein Mißgeschick kommt er aber stattdessen selber ums Leben. Dieser Kobayashi ist nichts anderes als eine Karikatur des typischen japanischen Mannes. Ein solcher Mann ist wohl für eine unerträglich schöne Liebesbeziehung nicht geeignet. Es ist denkbar, daß die Kommunikationsunfähigkeit japanischer Paare darauf zurückzuführen ist, daß die Beziehung zwischen Mann und Frau noch immer durch Über- beziehungsweise Unterordnung gekennzeichnet ist, weil in Japan zwischenmenschliche Beziehungen jeder Art eine hierarchische Struktur aufweisen. Die Kluft zwischen dem Bewußtsein der Frau und jenem des Mannes hat sich also in den letzten Jahren vergrößert und sorgt dafür, daß dieses Thema auch in der Literatur weiterhin aktuell bleibt.

Die Kommunikationsunfähigkeit mag Ursache dafür sein, daß viele Frauen das Bemühen, sich dem Partner verbal verständlich zu machen, aufgeben und durch die Sexualität zu kompensieren versuchen. Aber auch in die Sexualität setzen Frauen andere Erwartungen als Männer, und die unterschiedlichen Anforderungen sind anscheinend nur schwer in Einklang zu bringen. Es ist den Frauen also weder mit Worten noch auf dem Weg der Sexualität möglich, in der Partnerbeziehung gegenseitiges Verständnis herbeizuführen. Daß Beddotaimu aizu besonders bei jungen Leserinnen so viel Anklang gefunden hat, liegt vielleicht daran, daß hier ein Paar zuerst den in Japan üblichen Weg beschreitet, letztlich aber doch zu einer wahren Kommunikation auch mit Worten, anders gesagt, zu einer wirklichen Liebesbeziehung, findet.

Die japanischen Schriftstellerinnen haben althergebrachte Gewohnheiten als Illusionen entlarvt. Dadurch wurde die traurige Wahrheit über den Zustand der Beziehungen zwischen Mann und Frau sichtbar.

Übersetzung: Eva Schaudy


Mitsuko MORISAKI
geb. 1955
1986: Abschluß des Doktorkurses an der Ritsumeikan-Universität
Derzeit: Lektorin an der Söai-joshi-tankidaigaku (Söai-Frauen-Kurzuniversität).
Fachgebiet: Moderne japanische Literatur.

Ruth Linhart | Japanologie | Onna da kara Email: ruth.linhart(a)chello.at