Ruth Linhart | Japanologie | Onna da kara

P.S. BRIEFE 1991

Eine unbesonnene 22jährige Japanerin sucht ihren Weg

Shi-zu-yo
13. Jänner 1991
Ich befinde mich momentan am Wendepunkt, ob ich mit der Universität aufhören oder weiterstudieren soll. Ich habe meine Tante um Rat gefragt und sie hat mir ziemlich herb und scharf geantwortet. Ich habe nichts gegen ihre Art, als japanische Frau durchs Leben zu gehen. Sie ist ein Mensch jenes Kampfes, der die Jugend in der kämpferischen Zeit der sechziger Jahre geprägt hat. Ich bin ihr auf diesem Weg gefolgt. Seit ich zirka 18 Jahre alt geworden bin, spüre ich aber, wie - mühsam unter dem Einfluß der starken Tante - die kleine Knospe meines eigenen Ich zu wachsen beginnt.
Ich habe auf jeden Fall unter der Führung meiner Tante die Minderwertigkeit der japanischen Frauen als eine Art eigenen Komplex übernommen. Jetzt bin ich jedoch auf der Suche nach der Lebensweise der Frauen des Ostens (tôyô no onna no ikikata).
Menschenrechte, Gleichberechtigung, Schwäche, Stärke, Weisheit, Dummheit - nicht nach solchen westlichen Maßstäben richte ich mein Leben heute aus, sondern ich suche nach der Frauen eigenen geschmeidigen Stärke (josei no shinayakana tsuyosa). Denn ich kann mit meinen Augen sehen, was durch den Kampf gewonnen werden kann ...
Ich habe im letzten Sommer eine Veröffentlichung für die Rechte der Kinder (UNO) mit herausgegeben, geschrieben und gezeichnet und bin dabei mit vielen japanischen Frauengruppen in Berührung gekommen. Außerdem habe ich in meinem Job Gelegenheit gehabt, mit philipinischen Frauen zu sprechen, und deswegen ist meine eigene Meinung über Frauen differenzierter geworden.
Diesen Brief schreibe ich im Zimmer eines ungarischen Studenten. Er ist fünf Jahre älter als ich, aber er ist der erste Mensch seit ich auf der Welt bin, zu dem ich mich stark hingezogen fühle. Ich wohne mit ihm zusammen.
Für die Zukunft wünsche ich mir, daß ich meine künstlerischen Gaben entfalten und anwenden kann. Gleichzeitig damit möchte ich von einem globalen Blickwinkel aus die Kunst zu leben, wirtschaftliches Verständnis und soziale Fähigkeiten entwickeln. Jetzt, wo ich jung, voll Sinnlichkeit und prägsam bin, möchte ein großes Ziel vor Augen haben.
Von den weitsichtigen Erwachsenen erhalte ich Warnungen, die wie Drohungen klingen. Aber ein Ring mit noch so vielen Edelsteinen wird für ein Kind, das seinen Wert nicht kennt, nicht anders glänzen als ein Ring mit Glassteinen. Ich möchte leben, wie es meinen Gefühlen (kankaku) entspricht, und nicht, indem ich mich ständig nach oben strecke. Die Eltern haben gesagt: "Wenn wir dieses Kind aufziehen und es mit guten Dingen umgeben, wird dieses Kind verstehen, was gut ist", aber mich lockt jetzt anderes, und das ist nicht zu ändern.
Das Leben läuft nicht nach Plan. Es hängt von den Betroffenen selbst ab, was sie "Scheitern" nennen. Und vielleicht bin ich dabei, in die unübersehbaren Wellen des Lebens und der Gesellschaft hinauszurudern - eine unbesonnene 22jährige Japanerin.
Passen Sie gut auf sich auf und machen Sie sich das Leben schön!
Shi-zu-yo (Schriftzeichen für Ziel, Hafen, Generation)
geändert zu Shizu-yo (Schriftzeichen für Ruhe, Nacht)

Ruth Linhart | Japanologie | Onna da kara Email: ruth.linhart(a)chello.at