Ruth Linhart | Japanologie | Onna da kara

P.S. BRIEFE 1991

Masako T. arbeitet weiter

Frau Masako M. mit Kindern
20. Jänner 1991
Bei uns glänzt jetzt Tag für Tag der Schnee am Berg Fuji. Wie ist der Winter bei Ihnen in Wien? Ich habe mich über Ihren Brief sehr gefreut. Auch mir geht es gut und irgendwie schaffe ich es, daß ich noch immer berufstätig bin.
Ganz kurz über die Veränderungen in unserem Leben:
Die wesentlichste Änderung im Familienleben betrifft den Anteil meines Mannes an der Hausarbeit. Der ist viel größer geworden. Als die Mutter gesund war, hat er im Haushalt überhaupt nichts angerührt, jetzt hilft er (tetsudatte kuremasu) beim Wäschewaschen, Aufräumen, Bügeln und zeitweise kocht er auch das Abendessen. Das war bisher vor allem die Arbeit der Mutter, aber sie kann fast keine Hausarbeit mehr machen, weil ihre Krankheit (altersbedingte Neigung zu Senilität) ziemlich fortgeschritten ist. So ist die Hausarbeit praktisch zu einer Aufgabe meines Mannes geworden. Die Auffassung, daß es zum Schämen ist, wenn ein Mann Hausarbeit macht, ist aber immer noch sehr stark und darum kann ich das gar nicht allzu laut sagen. Aber ich bin ihm sehr dankbar.
Da die gesamte Verantwortung für die Hausarbeit jetzt mir anvertraut ist, können die Eltern und die Großmutter sorgenfrei leben (ie de nonbiri to shite imasu). Die Großmutter ist 95 geworden, sie kann nicht mehr ausgehen, ist aber bei guter Gesundheit und wünscht von mir, daß ich alle traditionellen Festlichkeiten (volkstümliche Bräuche wie die 15. Nacht, die 13. Nacht, Neujahrs-Nudeln, Neujahr-Reiskuchen etc.) genau einhalte. Der Großvater beharrt eigensinnig darauf, weiter sein Feld zu bebauen. Die Mutter ist krank, ihre Vergeßlichkeit ist enorm, sie kann auch nicht mehr das Essen vorbereiten, aber ich bin froh, daß sie nicht die Häuser verwechselt, wenn sie ausgeht.
Es ist anzunehmen, daß der Zustand der Mutter sich in Zukunft noch verschlechtern wird. Trotzdem habe ich die Absicht, weiter berufstätig zu bleiben - weil ich meine Arbeit liebe und für die Ausbildung der Kinder Geld sparen möchte. Meiner Meinung nach ist es nicht nötig, daß ein Mitglied der Familie sich für ein anderes Mitglied der Familie aufopfert. Die älteren Schwestern meines Mannes finden, daß das eine äußerst kaltherzige Entscheidung ist. Der Druck von außen ist auch heute noch sehr unangenehm ...
Die Gegend, in der ich wohne, ist äußerst konservativ und die Tendenz, Selbstaufopferung als eine Tugend, Selbstverwirklichung hingegen als schlecht hinzustellen, dominiert noch, deshalb ist dieser Druck sehr stark. Das macht mir momentan am meisten zu schaffen. Aber weil mein Mann damit einverstanden ist, bin ich guten Mutes, daß wir es gemeinsam und, so sehr er kann, mit seiner Unterstützung, schaffen.
Die Arbeit in der Schule macht mir außerordentliche Freude. Ich bin diesbezüglich völlig ausgefüllt. Nur, Arbeit und Familie, alles zusammen, ist ziemlich mühsam und manchmal wächst es mir schon über den Kopf, doch mein Mann steht hinter mir, und es wird schon irgendwie weitergehen.
Der Fortschritt der Frauen in der Arbeitswelt ist etwas Wunderbares, aber das alte System der Familie (ie) läßt die Frauen noch immer nicht aus, und es ist nicht möglich zu arbeiten, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben.
So schaut also meine Situation derzeit aus.
Wenn Sie wieder nach Japan kommen, besuchen Sie mich bitte sicher. Ich werde mich nicht mehr wundern daß Sie "auch ein Mensch" (onaji ningen da) sind ...
Ein gutes Jahr 1991 wünscht Ihnen
Masako M.

Ruth Linhart | Japanologie | Onna da kara Email: ruth.linhart(a)chello.at