Ruth Linhart | Japanologie | Onna da kara

Reisenotizen Japan 1988

Wien 25. Juni
Meine derzeitige "Arbeitshypothese": Die emotionalen Bindungen von Frauen sind in Japan anders ausgerichtet als im Westen. Nicht die Männer sind Objekt, sondern die Eltern bzw. die Kinder. Die Blutsverwandtschaft ist der emotional entscheidende Bereich. Der Mann ist Mittel zur Existenzsicherung. Das würde den vergleichsweise geringen Aufruhr durch die sogenannte sexuelle Befreiung erklären. Allerdings mischt derzeit die westliche Vorstellung, daß der Mann das Hauptliebesobjekt ist, mit. Das hieße: Die Frauen sind emotionell nicht unabhängig, sondern anders abhängig. Will sich eine Frau befreien, muß sie sich eher vom Zwang zur Mutterschaft als vom Zwang zur Ehe befreien.

22. Juli:
Konformitätsdruck. Ich erlebe den subtil eisernen Druck durch das Netz weitgespannter Verbindlichkeiten bei der Interview-Vorbereitung. Ich habe eine Freundin gebeten, mir zu helfen, Interview-Partnerinnen zu finden. Sie hat die Sache zu ihrer eigenen gemacht. Das von ihr vorgeschlagene Gespräch mit einer Animierdame in einem Nachtklub habe ich jedoch abgelehnt, nicht zuletzt, weil ich den Abend für alle Beteiligten - und ich kann dorthin nicht alleine gehen - bezahlen müßte, mindestens öS 3000 - 4000! Um ½ 1 Uhr nachts ruft mich die Freundin aus Japan an: "Bitte, machen Sie doch dieses Interview, denn der Vorgesetzte einer Bekannten hat es arrangiert." Der Druck passiert ohne Drohung, nur mit Hinweis auf die Peinlichkeit für andere. Diesem Druck, verbunden mit dem Gefühl, zur Dankbarkeit verpflichtet zu sein, kann auch ich, eine Ausländerin, nicht standhalten. Ich befürchte, daß ich der Freundin in Zukunft nicht mehr ins Gesicht sehen kann, nachdem ich sie einer Situation ausgesetzt habe, daß sie ihrer Bekannten nicht mehr ins Gesicht sehen kann, weil diese ihrem Vorgesetzten nicht mehr ins Gesicht sehen kann... Eine teuflische Spirale!

24. Juli
Ich fliege zwischen Wien und Moskau.
Ich kann es jetzt ganz gut verstehen, wie Japanerinnen auf einmal verheiratet sind, obwohl sie es gar nicht wollen.
Die Hilfsbereitschaft ist so groß, daß jede Minute in Japan bereits im vorhinein für mich eingeteilt ist - wenn ich mich nicht vehement dagegen wehre, was wiederum äußerst unhöflich ist! Es ist mir auch mitgeteilt worden, was ich wo zu bezahlen habe, wobei es hervorgehoben wird, wenn mir trotz einer Verpflichtung meinerseits eine Bezahlung erlassen wird. Meine Schuldgefühle (oder Schamgefühle - mir fällt es schwer, dazwischen zu unterscheiden) werden permanent auf Glut gehalten. Die Interview-Partnerinnen selbst wissen nichts davon, die hilfsbereiten Freundinnen haben nichts davon. Ich bin überzeugt, daß dieser Vorgang völlig automatisiert abläuft und im Bewußtsein, das Beste für mich zu tun - was wahrscheinlich sogar stimmt, nur ist das Gefühl der "Bevormundung" schwer auszuhalten.

25. Juli
Im Zug, dem Shinkansen-Express, zwischen Tôkyô und Kyôto. Das grüne Japan. Reisfelder und Teepflanzungen und immer näher rückend die Berge. Aber der Blick zur Küste hin ist grausam. Die Landschaft ist zerstört. Ein Fluß, eine rote Brücke, ein Friedhof, Bambus gegen die Berge, am Meer eine scheußliche Fabriksanalage. Schlote, Qualm.
Eine Familie im Zug: Papa sitzt mit Kind in einer Reihe, Mama mit Kind in der nächsten. Papa und Mama sprechen nicht miteinander.

27. Juli, Kyôto
Am Vormittag bei der Rechtsanwältin Matsuo, nachmittags Interview mit den "Sanyô-Frauen" - Teilzeitarbeiterinnen, die fristlos entlassen wurden, weil sie im Gegensatz zu den fest Angestellten (seishain) keinen sozialen Schutz haben. Diese Frauen gingen zu Gericht und kämpfen mit Unterstützung von Gewerkschaft und Rechtsanwälten nicht nur gegen die Kündigungen, sondern auch um die Anerkennung ihrer Tätigkeit als gleichwertig mit jener der Angestellten. Denn das ist das grundlegende Problem: Sie machen dieselbe Arbeit unter anderen sozialen und finanziellen Bedingungen! Drei der betroffenen Frauen waren da, ein Rechtsanwalt, die Rechtsanwältin, in deren Büro das Interview stattfand. Wenn die drei Frauen sprachen, verstand ich "Bahnhof". Sie redeten im Ôsaka-Dialekt, noch dazu der erste Interview-Tag, und ich war sehr müde. Soviel ich verstanden habe, wurden die entlassenen Frauen von der Firma unter enormen Druck gesetzt, an dem Kampf nicht teilzunehmen, zum Beispiel wurde zu Hause angerufen, daß die Tochter keine Arbeit finden würde oder keinen Ehemann. Der Rechtsanwalt sagte kein Wort.

28. Juli
Nach elf Uhr nachts. Heimfahrt von Ôsaka nach Kyôto. Das Programm war monströs, bei drei Terminen die verschiedensten Menschen:
Vormittags Ikuno-gakuen, ein Haus für Frauen in Not.
Dann mit dem Zug nach Kôbe. Eine Stadt in herrlicher Lage. Wir besuchen das Ehepaar U. Herr U. holte uns vom Bahnhof ab, mit einem kleinen Bus, Spitzendeckchen über den Polstern. Er fuhr halsbrecherisch durch schmale Gäßchen mit Abwasserrinnen zwischen den kleinen Häusern. Wo er, seine Frau und seine zwei Kinder wohnen, war es hübsch, aber alles so klein wie bei Tucholsky: "Und in Japan ist alles so klein!" Das erste Interview in einer Privatwohnung. Die Stimmung ist anfangs sehr befangen, später lockert das Ehepaar etwas auf. Die Kinder ihrerseits sind eher überdreht angesichts der Gäste. Das Interview wurde vereinbart, weil Naoki U., 41, einer der wenigen Männer in Japan ist, der Kinderbetreuungszeit in Anspruch nimmt. Hisayo U., 39, ist Krankenschwester in einem Spital für behinderte Kinder. Das Paar hat zwei Söhne, 8 und 4 Jahre alt. Der Ehemann arbeitet in einem Verlag. Wie er erzählt, sind in Japan in Verlagen die sozialen Regelungen im allgemeinen fortschrittlich. Die Firmengewerkschaft hat durchgesetzt, daß Eltern von Kindern bis zum Volkschulalter pro Tag eine Stunde Kindererziehungszeit nehmen können (ikuji-jikan). Er bringt also den kleineren Sohn in den Kindergarten und fährt dann in die Arbeit nach Ôsaka. Für Frauen ist Kinderbetreuungszeit bis 2 Stunden in vielen Betrieben üblich, für Männer fast nie möglich. Allerdings wird Herrn U. 20% des Stundenlohns abgezogen! Die Regelungen sind je nach Betrieb völlig verschieden. Die sozialen Leistungen werden in Japan zum Großteil von den Firmen selbst finanziert. In Frau U.'s Betrieb gibt es Kinderbetreuungszeit nur für Frauen. Sie hat den Mutterschutzurlaub, acht Wochen vor und acht Wochen nach der Geburt, in Anspruch genommen. Naoki U. hat sich das Recht auf Kinderbetreuungszeit für Männer praktisch selbst, als Funktionär der Firmengewerkschaft, erstritten. Er und seine Frau lernten einander vor 15 Jahren in der linken Studentenbewegung kennen. Es war für beide klar, daß Hausarbeit nicht Frauenarbeit ist und auch in der Ehepraxis wird Aufgabenteilung praktiziert: Beide kochen oft mit einem Buch in der Hand, sagen sie. Nähen könne sie schneller. Aber die Buben sollten alles lernen.
Sie erzählen, daß sie trotz vieler gemeinsamer Interessen kaum mehr Zeit für Gespräche haben, denn die Frau hat Schichtdienst, zwei kleine Kinder und lange Fahrten an den Arbeitsplatz. Die Kommunikation betrifft Notwendiges und Alltägliches. Zeit ist knapp, und die Müdigkeit nach allen Verpflichtungen überwiegt jedes andere Bedürfnis.
Seit 21. Juli sind Schulferien, bis Ende August. In den nächsten Tagen plant die Familie eine kurze Reise, vier Tage. Das ist der heurige Urlaub.
Dann zurück nach Ôsaka, wo wir um sechs Uhr mit Frauen der Kitaku no kai (Studiengruppe zum Internationalen Jahr der Frau, Bezirk Kita) verabredet sind. Um neun Uhr ist dort ziemlich hektischer Aufbruch. Frau O., die mich heute begleitet hat, nimmt mich noch in eine Sushi-Bar mit, wo wir rohen Fisch essen und Bier trinken.

29. Juli
Nachts, ich fahre mit dem Shinkansen-Express von Hamamatsu nach Kyôto zurück. In Hamamatsu habe ich mit Frau Imai die Übersetzung des Fragebogens für die geplante Befragung an Oberschul-Absolventinnen durchbesprochen. Vormittags in Ôsaka Interview mit JAL-Direktorin Sachiko K.. Es ist 21.15 Uhr und ich bin die einzige Frau im Waggon. Lauter Männer, die von der Arbeit nach Hause fahren! Ich habe das Horrorbild, daß alle Männer auf einmal über mich als feindliche und provozierende Frau - noch dazu Ausländerin - herfallen. Würde mich einer von diesen heimfahrenden müden Männern beschützen?
In der Nacht schauen die Städte, die draußen vorbeiziehen, fantastisch aus. Man sieht nur die Lichter und hört natürlich aus dem Zug keinen Laut von dem Lärm, der dort herrscht.
Als ich vor dem Bahnhof von Hamamatsu auf Frau Imai wartete, redete mich eine eher derb wirkende Frau aus Ôsaka an. Mit ihren fünf Kindern und einer Freundin habe sie einen Ausflug nach Hamamatsu gemacht. Die älteste Tochter war zwölf, sah aber aus wie 15 oder 16 und war überhaupt nicht schüchtern. Eine Tochter war auf Krücken, hatte nur ein Bein und eine riesige Narbe auf dem zweiten.

30. Juli
Betriebsausflug mit der Kyôto-Universität an den Biwa-See.
Zuerst auf den Berg Hôrai-san. Herrlicher Blick, aber die Natur zu einem billigen Vergnügungspark verramscht. Bunte Sessellifte, damit man keinen Schritt gehen muß und überall aus Lautsprechern Schlager.
Anschließend kaiseiki-ryôri. Man sitzt auf den Reisstrohmatten (tatami) und jeder hat ein Tablett mit verschiedensten Leckerbissen vor sich. Dazu wird getrunken, vor allem Bier. Drei Männer hatten ihre kleinen Kinder mit, aber keiner seine Frau. Mein Nachbar, der in der Universitätsverwaltung beschäftigt ist, hielt mir nach einigen Gläsern einen Vortrag: Er meinte, daß die Kinder ein von den Eltern getrenntes Leben hätten und daß die Eltern kein Recht hätten, auf die Kinder irgendeinen Druck auszuüben. Die Eltern sollten den Kindern - auch den Töchtern - bis zum Alter von 20 alle Hilfe zuteil werden lassen, Geld müsse dafür einfach da sein, auch wenn die Eltern sich einschränken müßten. Wenn es mit der Schule nicht funktioniere, sei das auch keine Tragödie, dann müsse man eben den nächsten Schritt ins Auge fassen. Das Leben sei kurz, und jeder müsse so leben, daß er nichts zu bereuen habe. Er wolle seinen Kindern das auch ermöglichen. Seine Tochter, elf Jahre alt, habe aber nur mit seiner Frau ein wirklich gutes Verhältnis. Zu ihm kämen die Kinder nur, wenn sie irgendetwas brauchen. Er hatte die elfjährige Tochter mit, Vater und Tochter schienen mir sehr vertraut miteinander umzugehen! Seine Frau, eine Verkäuferin, arbeitet am Samstag nachmittag, aber sie wäre auf keinen Fall mitgekommen, meint er. Später, im Autobus, sang er gefühlvoll und mit feuchten Augen zum karaoke. Sowohl beim Essen wie auch im Bus fehlte nicht ein Monitor mit Video-Klips zu beliebten Liedern mit Orchesterbegleitung. Das Gesang dazu übernehmen die Anwesenden. Das ist kara-oke , ein halb japanisches und halb englisches Wort: ,,Leeres Orchester". Ich frage mich, warum bei allen Video-Clips schöne Frauen weinend oder sehnsüchtig blickend durch den Sturm oder an heranpeitschenden Meereswellen entlang wandern, einsam und liebeskrank! Wünschen sich die Männer wirklich am meisten, daß eine Frau sich nach ihnen verzehrt, wie mir ein Mann erklärt hat?
Man stellte fest, daß mein Sohn Felix, der auf dem Ausflug dabei war, mir ähnlich schaue. In Japan glaubt man nämlich, daß ein Sohn, der seiner Mutter ähnlich schaut, glücklich wird!

31. Juli, Kyôto
Sonntagsausflug, zuerst zum Tempel Ryôanji mit Felsengarten und Lotusteich, dann zum Goldenen Pavillon, über den Yukio Mishima seinen berühmten Roman. geschrieben hat. Bäume, Berge, Quelle und darin eingebettet das von den Menschen Geschaffene, wunderschöne Holzdächer, Bambuszäune, jede Regenrinne ist ein Kunstwerk, Brücken. Unglaublich, daß es dieselben Japaner sind, die das zustandebringen, und auf der anderen Seite die Verschandelung der Natur am Biwa-See! Aber- es sind eben nicht dieselben Japaner!
In einem geschmackvollen Nudelgeschäft mit wunderschönem Geschirr köstliches Essen. Schließlich am Kamo-Fluß Feuerwerkskörper und Liebespärchen. Eine laue, geruhsame Stimmung. Der Inbegriff einer japanischen Sommer-Stimmung.

1. August
Speisewagen. Shinkansen-Express. Fahrt nach Tôkyô. Ich esse Curry-Reis. Ein Mann setzt sich zu mir an den Tisch. Deutet auf die Uhr, will mir vielleicht vermitteln, daß der Zug bald in Tôkyô ankommt. Ich denke mir: ,,Womöglich ist er wirklich stumm!" Bis sich herausstellt, daß er spricht, aber nur beim Englisch verstummt.
Zwischen Nagoya und Tôkyô reiht sich ein Industriebetrieb an den anderen. Halbe Berge abgetragen. Buchten verbetoniert. Die schönste Landschaft Japans verwüstet, die Landschaft der Holzschnitte von Hokusai, die Landschaft der berühmtesten japanischen Literaturwerke.

2. August
Ich sitze in einem Kaffeehaus am Bahnhof von Nakano in Tôkyô und warte auf Frau Tanaka. Am Nebentisch vier Frauen in meinem Alter. Sie reden über Beziehungen: ,,Ich habe mit meiner Schwiegermutter eine sehr gute Beziehung..." ,,Ich gehe den Weg, der mir richtig erscheint... sonst nichts!" ,,... Weil ich es nicht mehr aushalten kann."
Später. Frau Tanaka sagte, nur wenn ihr Mann sie betrüge, würde sie sich sofort verabschieden. Alles andere würde sie durchhalten...
Ich War mit Itsuko Teruoka, sie ist Ökonomieprofessorin und eine sehr erfolgreiche Buchautorin, bei Frau I.. Nach dem Interview zurück zum Bahnhof von Shimoigusa. Momentan macht der Taifun Nummer acht schlechtes Wetter. Es war dunkel und dampfig, richtig gespenstisch. Aber dann die sympathischeste Seite von Tôkyô: kleine Häuser, schmale Straßen, Bahnhofsschranken und eine Bahnhofsstraße mit vielen hellen offenen bunten Läden und winzigen Lokalen. Frau Teruoka lud mich ein. Wir aßen in einem engen Sushi-Lokal, schmutziges Klo, schmutzige Küche, aber wunderbares Essen: Tofu, gebratener Fisch, Suppe, O-Sushi. Wir plauderten sehr angeregt. Frau Teruoka: Männer machen Überstunden, Frauen nicht. Frauen wollen ,,ihr eigenes Leben leben". Sie selbst habe früher versucht, sich anzupassen, aber irgendwann habe sie sich entschlossen, von jetzt an zu sagen, was sie denke.
"Otoko wa onna ni taishite hijô ni amaete imasu." Das heißt etwa: "Die Männer lassen sich Frauen gegenüber außerordentlich gehen". Sie spüren wohl, meint Frau Teruoka, was die Frauen von ihnen wünschen, aber sie gehen nicht darauf ein. Männer untereinander hingegen seien sehr zurückhaltend - der Begriff enryo wird in Japan mit Respekt und Achtung assoziiert. Frau Teruoka meint, Männer zeigten gegenseitig enryo, sie hätten von klein auf gelernt, Stolz zu haben und respektierten das untereinander. Männer könnten nur mit Hilfe von Alkohol ihre Reserviertheit überwinden. Frauen reden miteinander ohne enryo - achtungsvolle Reserviertheit.
Das Stadtviertel Shinjuku mit seinem Riesenbahnhof war ein Lichtermeer. Ich sah viele beschwipste Männer. Die japanischen Männer schauen mich nur direkt an, wenn sie betrunken sind! Ich schaute zugeknöpft.
Während des Essens an der Theke des kleinen Lokals das erste Erdbeben. Jetzt wieder ein Erdbeben. Im siebenten Stock eines Hotels mit Fenstern, die nicht zum öffnen sind, inmitten eines dicht verbauten Stadtteils ist mir etwas unheimlich zumute!

3. August
"Hotto onegaishimasu"- Bitte einen Heißen - Ich sitze im Cafe. Heute beim Frühstück im Hotel war ich nur von sararii-man (Angestellten) umgeben. Da sie aber nicht mehr beschwipst waren, sah mich niemand an und ich kam mir fast wie alleine vor. Ich mache sie vielleicht unsicher, weil sie nicht lernen, mit Frauen umzugehen.
Im Fernsehen wurde behauptet, daß unter jungen Japanerinnen derzeit Reiten besonders "in" sei.
Die Erdbebentätigkeit setzt sich fort.
Abends: Im Fernsehen bringt eine Frau die Wetteransage. Das gibt es bei uns noch nicht!

4. August
Auschecken vom Sun-Hotel in Tôkyô. Mit einem Bummelzug fahre ich bis Ozu. Auf diesem Landbahnhof warte ich längere Zeit auf die nächste Verbindung. Viele Schüler sind zu sehen. Tragen sie auch in den Ferien die dunkelblaue Schuluniform? Heiß. Berge. Meeresbuchten.
Auf der Weiterfahrt spricht mich ein junger Pakistani an, der bei einer japanischen Familie untergebracht ist. Er läßt sich von mir japanische Vokabel beibringen. Die mitreisenden Japaner amüsieren sich sichtlich.
Um 13 Uhr Ankunft in Ôyama am Fuße des Fuji-Massivs. Ich erwarte, daß mich Frau T. abholt. Masako T. ist Volkschullehrerin, 37 Jahre alt und ehemalige Schülerin der Frauenkurzuniversität von Hamamatsu, an der Frau Imai unterrichtet. Sie ist am Bahnhof, eine hübsche Frau, sorgfältig angezogen, weiß-schwarz kariertes Sommerkostüm mit kurzen Ärmeln, eine schwarze Schleife über dem Haarknoten. Sie wartet mit einem Kind auf mich. Auch ihr Mann ist mitgekommen. Er ist Ende 30 und hat graue Strähnen im Haar. Er arbeitet beim Finanzamt und hat gerade Mittagspause. Er führt uns mit dem Auto durch den Ort, ein Bach rauscht, schöne Blicke, alles ist grün. Wir steigen vor einem großen Haus aus, Malven, Sonnenblumen und andere Blumen blühen im Garten. Großmutter und Großvater tauchen auf der Veranda auf. Beim Haupteingang begrüßt mich auf Knien die "große Großmutter". Sie ist über 90 jahre alt. Die Seitenwände im Parterre sind zurückgeschoben, damit Luft ins Hausinnnere kommt. Im "Wohnzimmer" wartet auf dem tatami-Boden eine lange Tafel voll bunter Speisen, alle Köstlichkeiten, die zu einem guten Essen gehören, O-Sushi, Sashimi (roher Fisch mit und roher Fisch ohne Reis), gebratenes Fleisch, verschiedene Gemüsesorten. Der Großvater setzt sich ans Ende des Tisches und konversiert vor dem Essen mit mir, während die "kleine Großmutter" - seine Frau - mit den letzten Vorbereitungen beschäftigt ist. Ob Österreich ein kommunistisches Land sei? Man hat sich mit dem Atlas auf mein Kommen vorbereitet. Er war Lehrer und habe einmal eine Europareise gemacht, aber in Wien sei er nicht gewesen. Man wundert sich, daß ich Eßstäbchen benützen kann. "Papa" geht bald wieder in die Arbeit. Frau T. und ich ziehen uns ins Ausgedinge zurück, weil es dort ruhig ist. Leider nützen die vorzüglichen Vorbereitungen für das Interview nichts, weil aus irgendwelchen Gründen das zweistündige Gespräch auf der Kasette kaum zu hören ist!
Frau T. lebt mit Mann und drei Kindern in einer Viergenerationenfamilie. Die "große Großmutter" macht nichts mehr, aber die kleine Großmutter, auch schon über 70, führt den Haushalt, während sie selbst im nächsten Ort in der Volkschule Lehrerin ist. Nie kommt sie vor sechs Uhr nach Hause, oft später. In der Freizeit unernimmt sie natürlich nichts ohne ihre Familie, mit der sie sowieso nur wenig beisammen ist. Der Beruf ist ,,Nummer eins" für sie, wie sie sagt. Auch jetzt in den Ferien ist in der Schule Programm für die Schüler, und die Lehrer haben nur ungefähr 10 Tage wirklich frei. Diese Tage wolle die Familie für einen etwa dreitägigen Ausflug zu den alten Kulturstätten von Kyôto und Nara nützen. Der Großvater versorgt den Garten und das Feld rund um das Haus. Finanziell legt jeder seinen Beitrag in die Haushaltskasse. Der Mann und sie haben ein eigenes Zimmer und spät am Abend besprechen sie oft noch verschiedenste Probleme. Die Ehe ist eine sogenannte shôkai-renai-kekkon (Liebesehe über Vorstellung). Eingefädelt hat sie der Schwiegervater. Er fragte sie, ob sie nicht seinen Sohn heiraten wolle. Er war Lehrer in ihrer Schule.
Sie habe nur den Wunsch, meint sie, arbeiten zu können, bis ihr Sohn mit seiner Braut ins Haus einziehe und sie dann für ihn und die Enkelkinder sorgen könne. Derzeit allerdings sehe es so aus, als ob sie möglicherweise bald zu arbeiten aufhören müßte. Das Hüftleiden der Schwiegermutter werde immer ärger, und bald würde sie sich nicht mehr um den Haushalt kümmern können. Schon jetzt richteten die Geschwister des Mannes sie aus, weil sie die Mutter im Haus arbeiten ließ, nur, um außer Haus ihrem Beruf nachzugehen.
Deutlich geht aus dem langen Gespräch hervor, wie sehr der Gedanke, die Arbeit eventuell aufgeben zu müssen, Frau T. bedrückt. Ihre Arbeit bedeutet vielleicht nicht nur Erfolgserlebnisse, sondern auch Freiheit von dem Korsett einer großen Familie, Abwechslung und, nicht zu vergessen, die Familie braucht ihren Verdienst auch nötig, um die Ausbildung der drei Kinder zu finanzieren. Ob sie später für den Sohn wirklich freudigen Herzens zu Hause bleiben wird? Ich glaube eher, sie rechtfertig sich jetzt vor sich selbst mit dem Argument, sie sei ja bereit, für die Kinder dasselbe zu leisten, wie die Elterngeneration für sie.
Zum Schluß sagt Frau T. erleichtert: "Jetzt habe ich zum ersten Mal mit jemandem aus dem Ausland gesprochen, das war wirklich gut. Offensichtlich sind Ausländer auch Menschen!" (Hajimete gaijin to hanashimashita ga, ii keiken ni narimashita. Yappari gaijin mo ningen desu ne!) Im ersten Augenblick bin ich perplex und unangenehm berührt. Aber Frau T. will wohl nur sagen, daß wir uns von Frau zu Frau verstanden haben. Ihre Probleme sind auch mir bekannt und umgekehrt. Ich erzähle bei den Interviews immer auch einiges von Österreich, damit die Information nicht nur einseitig ist. Zum Abschied bekomme ich eine riesige Holzschachtel mit somen- Nudeln, einer Spezialität der Gegend, eingewickelt in ein rotes Tragetuch. Und ein Geschenkkuvert mit Geld vom Großvater. Er wisse, daß Reisen teuer ist, weil er selbst gereist sei. Was tun? Ich bin mit meinen japanischen Verhaltensregeln am Ende. Eines ist mir aber klar - zurückweisen kann ich dieses Geschenk auf keinen Fall!

5. August, Mishima
Herr K. sagte, wenn Burschen in eine Mädchenschule gehen, ist es ebenso pervers, wie wenn Burschen sich schminken.
Gestern am späten Nachmittag fuhr ich noch von Oshima nach Mishima. Wieder werde ich erwartet: von Frau Imai und ihrer 19jährigen Nichte Shizuyô K.. Diese ist sehr zart, redet sehr lebhaft, sehr singend und sehr höflich, trotzdem sehr direkt. Zu meiner Überraschung ist auch ihr Vater am Bahnhof. Es handelt sich um die Familie der jüngeren Schwester von Frau Imai.
Früher konnte man vom Rand der Stadt, wo die K.s ihr Haus haben, Kakibäume, Reisfelder und den Berg Fuji sehen, erzählen sie mir. Aber jetzt hat jemand ein zweistöckiges Haus vorgebaut.
Die jüngere Schwester Frau Imais begrüßt uns mit vorgebundener Schürze. Frau Imai und ich schlafen in dem Zimmer, in dem bis zu ihrem Tod die Großmutter wohnte. Wir fallen zur Begrüßung alle auf die Knie. Ich schenke die somen-Nudeln weiter. Ich werde ins Bad geschickt, dann gibt es das Essen. Die Küche, in der die Schwester werkt, ist direkt ohne Wand an das Wohnzimmer angeschlossen. In der Mitte des Zimmers ein runder Eßtisch, natürlich sitzen wir auf Kissen auf den Reisstrohmatten. Ein Klavier ist da. Auch der Sohn des Hauses, ein hochgewachsener hübscher Bursch, 18 Jahre alt, taucht auf. Er fragt mich sofort, ob ich fände, er schaue wie ein Kind aus, weil ja Japaner für Amerikaner so jung wirken. Ich antworte, daß ich keine Amerikanerin sei... Wie immer wird speziell für mich Fleisch aufgeboten und Brot. Denn Fleisch und Brot ißt man im Westen. Fisch und Reis wäre für mich wahrscheinlich nicht zu konsumieren, nimmt man an.
Bald entsteht eine heftige Diskussion, vor allem zwischen Vater und Tochter; Sohn und Mutter schweigen, Frau Imai wird ab und zu von der Tochter um Beistand ersucht. Es handelt sich, wie man mir mitteilt, um einen Familienstreit, wobei die Tochter ständig lacht, der Vater nicht schreit, jedoch sichtlich in Argumentationsnot gerät und fast verzweifelt wirkt. Es dreht sich grundsätzlich darum, ob der Vater die Meinung der Tochter verstehen könne und sie auch ernst nehme und umgekehrt. Die Diskussion ist davon ausgegangen, daß ich nach meinen Kindern gefragt wurde, man kommt auf die japanische Jugend zu sprechen, das Modewort shinjinrui taucht auf, das man mit "die neuen Menschen" übersetzen könnte. Dieses Wort sei ein Etikette, das die Alten den Jungen aufkleben, weil sie diese nicht verstehen könnten. Die Wörter kankaku und gimu fallen, "Gefühl", "Sinnlichkeit", "Einfühlung" versus "Pflicht". Die 19jährige Shizuyo: "Junge Leute handeln nach ihrem Gefühl". Der Vater: "Es gibt Rechte, aber davor ist die Pflicht". Die Tochter: "Zwischen Jungen und Alten ist ein Riß" (gyappu vom englischen gap). "Die meisten jungen Leute reden gar nichts mehr", meint sie. Sie sei altmodisch, weil sie immer noch versuche, anderen etwas zu erklären, aber die Alten verstünden ja doch nicht. Sie könne trotzdem den Vater als Mensch sehen und anerkennen, daß er anders denkt als sie, wenn sie auch seine Ansichten nicht teile. Er hingegen verstehe überhaupt nicht, wovon sie rede. Er: "Wenn du dieser Meinung bist, hört sich alles auf". Sie: "Unsere Meinungen sind wie zwei verschiedene Kuchen auf zwei verschiedenen Tellern". Der Bruder lacht. Die Mutter fordert den Bruder auf, mehr zu reden. Die Schwester sagt, er gehöre eben zu den Jungen, die sich wenig Gedanken machen und nicht irgendjemanden von irgendetwas überzeugen wollen.
Schließlich entschuldigt man sich bei mir - völlig unnötig, da ich diesen Einblick in die intime Familiensituation sehr genieße -, daß es wenig Gelegenheit für Gespräche gebe, denn normalerweise sei Shizuyo zum Studium in Tôkyô, der Bruder verschwinde sofort nach dem Essen und der Vater komme erst zwischen zehn und elf Uhr nach Hause. Er arbeitet als Tierarzt, mit der Bahn zwei Stunden entfernt. Unter anderem erzählt er an diesem Abend, daß neuerdings auch Frauen aufgenommen würden, aber das bringe Probleme, weil sie Kinderpause machten und es unmöglich sei, für ein Jahr einen Ersatz zu finden. Wie sich doch die Probleme gleichen!
Auf alle Fälle scheint mir trotz der Auseinandersetzung, daß Vater und Tochter sich sehr nahe sind. Als ich später aus dem Bad komme, hilft Papa gerade mit Schürze seiner Frau beim Aufräumen.
In der Nacht klingelt vor den Holzjalousien die Windglocke. Zwischen drei und vier Uhr bebt es mindestens viermal. Ich wache jedesmal auf und fürchte mich. Beim Frühstück machen die Gastgeber ein peinlich berührtes Gesicht, als hätten sie es diesbezüglich an Gastfreundschaft mangeln lassen. Am Vormittag, während ich mit Shizuyo das Interview durchführe - ebenfalls tonlos, wie sich gerade herausgestellt hat - hämmert der Vater an Stellagen für die Wohnung seiner Tochter in Tôkyô. Er führte sie nach unserer Abfahrt hin. Sie sagt, sie müsse um acht Uhr abends in Tôkyô sein, weil sie ab dieser Zeit in einer Cafeteria arbeite.
Shizuyo studiert an einer Art Universität für Angewandte Kunst. Die Eltern zahlen monatlich mehr als 100 000 Yen: 4000 Yen für die Miete und 750 000 Yen Universitätsgebühren. Ganz abgesehen von den Einschreibungskosten, die ebenfalls mehrere 100 000 Yen ausmachen. Die Mutter, Lehrerin von Beruf, bessert derzeit das Familieneinkommen als Teilzeitarbeiterin in einer Fabrik auf!
Shizuyo will "ernsthaft ihren eigenen Weg suchen". Der Einfluß von Frau Imai, der starken Tante, die nicht geheiratet hat, scheint groß.
Mittags werden übrigens die somen-Nudeln von Frau T. aufgetischt - damit ich weiß, wie sie schmecken und mich ehrlich bedanken kann.
Mit dem Shinkansen-Express nach Hamamatsu. Im Zug bespreche ich mit Frau Imai nochmals die Fragebögen. Abends Interview mit Frau S. und Frau U. vom Hamamatsu-Beratungszimmer für Frauen.
Nachher plaudern wir noch. Frau Imai erzählt, daß sie sich vor dem einjährigen Europa-Aufenthalt 1976 immer für absonderlich (hen) gehalten habe. In Europa habe sie gemerkt, daß die anderen Japaner absonderlich seien, und sie habe nach ihrer Rückkehr zu Frauenfragen nicht mehr den Mund gehalten. Der Aufenthalt in Wien war für sie ein "Kulturschock", ein "Schlüsselerlebnis", sagt sie.
Frau S. erzählt in bezug auf ihre Ehe, daß ihr Mann ein "Freund" für sie (tomodachi) sei. Ihr Verhältnis zu ihm sei in den letzten Jahren viel besser geworden. Er akzeptiere ihre Tätigkeit.

6. August, Hamamatsu
Völlig aufgelöst wegen der Hitze und eine Stunde verspätet kam heute vormittag Frau T. im Hotel an. Sie ist die Vorsitzende des Absolventinnenvereines der Städtischen Frauenoberschule von Hamamatsu. Ihre Unterstützung brauche ich, um an 500 Absolventinnen dieser Schule der Jahre 1947 bis 1986 eine schriftliche Befragung zu den Themen Ehe, Liebe, Sexualität und Arbeit durchführen zu können. Per Telefon holte sie die Vizevorsitzenden herbei und ich konnte ihr mein Geschenk nicht übergeben: Ich habe nur eine Petit point-Tasche mit! Alle drei schauten den Fragebogen durch, schienen interessiert. Es wurde beschlossen, daß bei der Vorstandssitzung am 23. August Fragebögen an alle Vorstandmitglieder ausgeteilt werden sollten, vielleicht würden einige den Fragebogen der Schwiegetochter nach Hause mitbringen wollen. Die Adressenliste der Absolventinnen würde Frau Imai übergeben werden, worauf die Fragebögen ausgeschickt werden könnten.
Dann erzählten sie über das Heiratsberatungsbüro des Absolventinnenvereins. Fast jede Oberschule hat eine solche Ehevermittlungsstelle angeschlossen. Sie berichteten Fakten, die ich schon kenne: Die Frauen sind wählerisch, fast immer lehnen bei den Eheanbahnungsverfahren die Frauen ab. Und oft wegen lächerlicher Kleinigkeiten ...
Um fünf Uhr Interview mit Yoko H. im Hotel. Nach dem Interview essen wir zusammen mit Yoko und ihrer ehemaligen Englischlehrerin, Frau N., die dieses Interview vermittelt hat. Langes Gespräch, ungefähr drei Stunden. Es ist die Rede davon, daß Kinder, die etwas anders sind als die anderen, zunehmend gequält werden. Yoko H. bestätigt das. Sie sei vor allem in der Volkschulzeit ausgespottet worden, weil sie dick war. Außerdem beklagt Frau N., die Lehrerin, daß die Mädchen Cliquen bilden, bei 50 Schülerinnen einer Klasse - sie unterrichtet in einer Mädchenschule - jeweils Gruppen von sieben bis acht Mädchen. Die machen alles zusammen, gehen sogar gemeinsam aufs Klo und warten beim Zurückgehen aufeinander. Für jemand Neuen sei es sehr schwer, sich zu integrieren. Wer in keiner Gruppe sei, leide darunter, bis zu Schlafstörungen. Mütter rufen bei ihr an: "Meine Tochter muß allein aufs Klo gehen, allein zu Mittag essen... " Frau N. liegt dann auf der Zunge: "Na und, was ist denn schon dabei, das ist doch normal." Sie versucht der Cliquenbildung entgegenzusteuern, zum Beispiel mit Wechseln der Sitzplätze. Aber die Kinder werden von den Eltern zur Unselbständigkeit erzogen. "Jibun ga nai - ima no wakai hito no naka de (Die heutigen jungen Leute haben kein Selbst)." Zuerst sind es die Eltern, dann die Gruppe, dann der Ehemann, von denen sie abhängig sind. Überall der Wunsch zu amaeru - sich liebhaben lassen.
Das Wort amaeru wird im gewöhnlichen Sprachgebrauch fast immer negativ eingesetzt: Nicht aufeinander eingehen, egoistisches Sich-gehen-lassen, Klammern. In amaeru ist Egoismus, Rücksichtlosigkeit und Unselbständigkeit enthalten.
Auf jeden Fall scheint es, als würden die jungen Frauen nicht selbständiger, trotz Trend zur Arbeit, mehr Sex, freiem Leben vor der Ehe, größerer Gesprächigkeit und größerer Unbefangenheit. Sondern verwöhnt, oberflächlich und auf andere angewiesen. Sie "wollen sich vergnügen". Sie "amüsieren sich" und sie "lassen sich verzärteln" (asobitai, tanoshiku yaru, amayakaseru). Die mittlere Generation sei anders. Die ist noch gewohnt, etwas durchzuhalten (gaman suru) und setzt diese Fähigkeit ein, um einen "eigenen Weg zu finden". Das ist der Tenor des Gesprächs.

7. August
Heute früh, noch vor dem Frühstück, Gespräch mit Frau Imai, die vermutet, Yoko H. hätte kein "Selbst" (jibun ga nai). Ich wendete ein, daß auch Mutterschaft und Eheleben eine Art "Verwirklichung des Selbst" sein könnten (jibun o genjitsu suru). Es kommt darauf an, auf die eigenen Wünsche zu hören, sich dem entsprechend zu verhalten, was man in sich selbst spürt - und nicht nach dem, was andere, selbst, wenn diese Feministinnen sind, für richtig halten! Zuerst muß ich wissen, was das eigene Selbst ist, dann kann ich es verwirklichen. Sagte ich. Wir sprachen auch über Frauenfreundschaften. Von Frauen mit Frauenbewußtsein würden Frauenfreundschaften in den letzten zehn Jahren stark propagiert, als seelische Unterstützung, erzählte Frau Imai. Sie nannte Kimi Komashaku und Aya Konishi als Paradebeispiel. Als Frau S. unlängst fragte, ob die beiden eine lesbische Beziehung hätten, verneinte dies Frau Imai.

8. August, Kyôto
Um 16 Uhr sind wir in einem Vorort von Ôsaka bei Familie S. zu einer Party eingeladen. Mit Kind. Die Ehefrau war Verlegerin (oder Redakteurin) und arbeitet trotz drei Kindern (ein, sechs und acht Jahre alt) immer noch freiberuflich. Außer uns ist eine Familie T. geladen und eine Nachbarin. Alle haben Auslandserfahrung. Als der Ehemann der Nachbarin gegen acht Uhr heimkommt, stehen wir gerade auf der Straße vor dem Haus und sehen den Kindern zu, die Feuerwerkskörper knallen lassen. Die Frau sagt beiläufig: "Willkommen daheim" (O-kaeri). Nichts Herzliches in der Stimme, kein Kuß. Bei uns würde das auf Ehekrach oder Entfremdung deuten.
Das Ehepaar T. heiratete während des Studiums. Das erste Kind brachte die Frau im Hort unter. Beim zweiten Kind gab sie auf. Der Mann will nicht, daß sie arbeitet. Das Ehepaar S. war in Amerika. Sie setzt uns unter anderem gesunde Kost vor, genmai-nigiri, Reißklöße aus Naturreis. Beide erzählen Anekdoten, wie ihre Versuche, mit Amerikanern über das japanische Essen Freundschaft zu schließen, fehlgeschlagen seien.
Herrn S. fällt ein, wie er am Flughafen in den USA seine Frau und sein Kind erwartet habe und beide unfähig gewesen seien, gleich den sie die umgebenden Amerikanern, laut und offen ihre Wiedersehensfreude auszudrücken. "Alle umarmten und küßten sich, aber wir standen nur wortlos und steif gegenüber und sagten soviel wie: Grüß dich. Japaner können ihre Gefühle nicht im körperlichen Ausdruck zeigen." "Warum können das Japaner nicht", fragt er. Niemand hier weiß eine Antwort. Die Kinder sind noch unbefangen. Auch Erwachsene zu Kindern. Wann hört die spontane körperliche Berührung auf, wo ist die Grenze?

10. August
Bin vor dem Regen in ein Kaffeehaus geflüchtet. Die Theke ist um einen Flügel herum gebaut. An der Decke hängen viele viele getrocknete Rosen. Ein Mikrophon und ein Notenständer deuten daraufihn, daß Musik gemacht wird. Warum lieben die Japaner karaoke so? Jemand erklärte mir: "Nur in der Einsamkeit (sabishisa) der karaoke-Lieder finden die Menschen einen Weg, die verdrängten Gefühle und Wünsche zu verwirklichen." Sentimentalität als Ersatz für erfüllte Bedürfnisse?

12. August, Katada
Nach fünf Jahren wieder hier in diesem Fischerdorf am Meer bei den Taucherinnen. Aber ich kann hier nicht Interviews machen wie ich wollte. Es ist O-bon, das japanische Allerseelenfest. Vom 11. bis zum 17. August ruht die Arbeit. Alle verbringen die Tage mit ihren Familien und wollen nicht gestört werden.

13. August
Goza, ein Badestrand. Es riecht nach gebratenem Tintenfisch und Meerwasser. Japanische Schlager aus den Lautsprechern. Die Wellen rollen laut ans Ufer. Die Leute schreien, reden, lachen. Kurz ein Höllenlärm. Ich sehe eine Frau mit Bikini - kommt nicht häufig vor. Heute früh plauderte ich zum ersten Mal ein bißchen mit Atsuko, der Schwiegertochter in unserer Unterkunft. Vor 5 Jahren redeten wir oft und lange zusammen und entwickelten eine Art Freundschaft. Diesmal waren wir bisher beide befangen. Sie ist keine Taucherin. Sie arbeitet stundenweise in einer Boutique in Funakoshi und betreibt zusammen mit der Schwiegermutter den kleinen Gasthof. Jetzt zu O-bon müssen alle Männer ihre Verwandten besuchen, erzählt sie. Die Schwägerin Toshimi, die früher gemeinsam mit ihrer Familie ebenfalls hier wohnte, hat sich mit ihrem Mann selbständig gemacht, ein eigenes Haus gebaut und fährt mit ihm in einem eigenen Taucherboot zur Arbeit.

14. August
Sehr viele Urlauber sind jetzt hier. Heute fuhren wir zur Insel Oshima und holten uns einen Riesensonnenbrand.
Am Abend endlich kein Regen, sodaß der O-bon-Tanz im Dorf stattfinden konnte. Unsere Hausfrau nahm uns mit dem Auto mit, zuerst in Toshimis neues Haus. Riesengroß. Ihr Mann, der mit ihr gemeinsam zum Tauchen hinausfährt, hat eine Krebsoperation hinter sich. Der Bruder, der in Ôsaka arbeitet, und seine ganze Familie sind gekommen und übernachten bei Toshimi. Unsere Hausfrau kündigte uns laut vom Eingang her an: "Ich habe die Ausländer mitgebracht!"
Dann zum Tanzplatz. Alle tanzen. Viele in Sommerkimonos, andere im Straßengewand. Der ganze Ort ist auf den Beinen. Unsere Hausfrau gehörte zu den vier Sängern, die die Trommeln begleiten, offensichtlich eine ehrenvolle Position. Die Stimmung ist weich und sentimental. Der Vorsitzende der Fischereigenossenschaft zeigt sich glücklich, daß er uns nach langer Zeit wiedersieht. Auch seine Tochter und ihre Familie sind hier, wir wundern uns gegenseitig, wie groß unsere Kinder geworden sind und wir fotographieren einander zur neuerlichen Erinnerung. Es ist, als träfe man alte Bekannte vom Nachbarhaus. Obwohl wir hier in einem japanischen Fischerdorf mit japanischen Fischern und ihren Verwandten, die allerdings städtische Angestellte und städtische Schüler sind, in einer schwülen Sommernacht dem japanischen Bon-Tanz zusehen.

18. August, Kyôto
Bei Familie Y. eingeladen. Ein hübsches neues Haus in einer aus dem Boden gestampften Wohngegend am Rand von Kyôto. Ein Bach rauscht neben dem Haus. Bambus wächst hinter dem Haus. Wir werden in die Wohnküche geführt. Es sieht chaotisch aus - wie in vielen japanischen Küchen. Ich würde mich in dem Chaos selbst nicht mehr auskennen. Frau Y. hingegen zaubert verschiedenste Gänge eines chinesischen Essens herbei. Herr Y., ein Universitätsprofessor, bindet sich in japanischer Arbeiterart ein hachimaki, ein Handtuch, um den Kopf und knetet den Gyôza-Teig, Teigtäschchen, gefüllt mit Gemüse und Faschiertem. Außerdem gibt es Melanzani mit Miso und Sesam, Gurken und Fleisch, schwarze Pilze, Krebse in Knoblauch-Sauce, scharf gebratene Hähnchen, Pudding, Kaffee. Das alles auf einem zweiflammigen Herd in unserer Anwesenheit gekocht! Und mit lustiger und ernsthafter Unterhaltung gewürzt. Die junge Familie hat ein kleines Kind, ein Mädchen. Die beiden heirateten über miai (Vorstellung). Herr Y. war schon über 30. Er verlangte von ihr, daß sie ihre Stelle bei der JAL aufgebe. Sonst würde nicht aus der Heirat. "In der ersten Zeit nach der Hochzeit bin ich mir wie tot vorgekommen", sagt sie. Er sagt, das habe sie ihm nie erzählt. Jetzt besteht das Problem, daß sie engen Kontakt mit seiner Mutter ablehnt. Sie möchte ihre Familie mit Kind und Mann genießen. Er möchte gerne mit beiden Frauen ein unkompliziertes Verhältnis haben.

19. August
Heute nützte ich die Zeit für eine letzten Tempelbesuch. Im Manshûin-Tempel störte die Stille der Zikaden und Vögel ein überheblicher japanischer sensei mit seinem deshi (Lehrer mit Schüler). Er erging sich lautstark über die Unvergleichlichkeit und Einzigartigkeit Japans und wetterte gegen Demokratie und Individualismus, die japanische Traditionen zerstören.

20. August, Tôkyô
Japanische Freunde haben eine Wiedersehensfeier organisiert. Viele Bekannte aus 20 Jahren Japan-Kontakt sind gekommen. Jeder von ihnen muß 8000 Yen zu zahlen, quasi sein Essen. Die meisten bringen noch ein kleines Geschenk mit. So will es der japanische Brauch.
Wiedersehen mit Frau I. und mit ihrer Stieftochter Mariko. Herr I., ein Arzt, ist vor 4 ½ Jahren gestorben. Seinerzeit wurde Mariko wegen eines Liebesdramas zu uns nach Wien geschickt. Jetzt ist sie schon einige Jahre mit einem vermittelten Partner verheiratet, ist berufstätig und möchte ein Kind, der Arzt hat gesagt, viel Sport wäre gut. Sie ist bildhübsch und kokett und muß mit ihrer Schwiegermutter zusammenwohnen, was schlimm für sie ist. Die Stiefmutter, ebenfalls sehr attraktiv und voll Lust am Flirten, hat ein Eheanbahnungsverfahren mit einem verwitweten Arzt aus dem Norden Japans hinter sich; die beiden verliebten sich. Aber der Stiefsohn ist dagegen, daß Frau I. den Familiensitz in Tôkyô aufgibt. Frau I. hat den Antrag vorderhand einmal abgelehnt, aber der Arzt scheint noch nicht aufgegeben zu haben, und sie wohl auch nicht. Sie als Krankenschwester wäre für einen Arzt - ganz abgesehen von ihrem Charm und ihrer köstlichen Küche - eine optimale Partie.
Frau S. wiederum erzählt von der Sorge um die alte Mutter, die derzeit alleine lebt. Sie hat einen sehr guten Posten, den sie aber aufgeben muß, wenn die Mutter krank wird und "in die Familie zurückkehrt". Ihre Generation ist wohl die letzte, die diese Verpflichtung selbst in sich fühlt und in der dieses Opfer von Frauen erwartet wird, sagt Frau S. Ihre eigene Tochter, um die 20, denkt nicht mehr daran, für sie zu sorgen, und sie selbst will ihr Leben im Alter so einrichten, daß sie das nicht nötig hat.
"Japanische Frauen halten bisher einfach zu viel aus", sagt sie.

21. August, Im Flugzeug zwischen Tôkyô und Moskau
Warum sind viele Leute bei uns auf Japan und die Japaner so böse? Weil sich die Japaner nicht so exotisch verhalten , wie sie sollten? Kein Mensch verlangt, daß bei uns die Idylle herrscht, die einen kleinen Teil unserer vergangenen Kultur ausmachte. Auf Japan ist man aber wohl vor allem böse wegen seines Erfolgs, seines Ehrgeizes, seiner Ernsthaftigkeit in wirtschaftlichen Dingen, weil es den westlichen Kapitalismus so vollkommen und teilweise westliche Lebensart übernommen hat. Alles ist ähnlich und doch ein bißchen anders hier als bei uns. Alle Modewellen, von der Kleidung bis zu den intelektuellen Trends, finden sich hier wie bei uns, wenn auch bei uns meist ein bißchen später: Kurze Röcke, Auflehnung der Jungen gegen Anpassungsdruck und Erfolgszwang der mittleren Gegenration, Ansätze zu einem neuen Bewußtsein und Bestrebungen zur Selbstverwirklichung unter den Frauen. Was ist anders? Das Leben ist hektischer: Die Ströme der heimkehrenden Männer spät nachts, die Fronten der in die Arbeit strömenden Menschen in der Früh. Dazwischen, mittags, abends, sah ich die Menschen entspannt schlendernd, lachend. Sie sind nicht immer im Stress.
Die Zeit, die Männer und Frauen zusammen verbringen, ist wahrscheinlich kürzer als bei uns. Die Heiratsformen sind anders. Die Sorgen um die Eltern belasten mehr.
Aber alles in allem - es kommt mir bei uns egoistischer vor. Ich habe wohl schon "das japanische Auge".
Ich sehe ähnliche Wünsche und Bedürfnisse, wenn auch die äußeren Formen sich unterscheiden. Wie zwei Pullover. Beide sind hellblau, aus Wolle und langärmelig, aber jeder ist in einem anderen Muster gestrickt. Der Pullover ist das Patriarchat ...


Ruth Linhart | Japanologie | Onna da kara Email: ruth.linhart(a)chello.at