Ruth Linhart | Japanologie | Onna da kara

Noriko Satô, 53, Tôkyô, 3. August 1988

Es sind Probleme des Patriarchats.

Noriko Satô
Noriko Satô ist klinische Psychologin und Psychoanalytikerin. Sie behandelt Frauen und Männer, Jugendliche und Erwachsene, außerdem hält sie Vorlesungen an der Bunkyô-Universität in Tôkyô, macht "Lebensberatung" im Radio und hat zahlreiche Publikationen verfaßt.
Ihr bekanntestes Buch erschien 1985, heißt "Shirayuki hime konpurekkusu" (Der Schneewittchen-Komplex) und behandelt die Problematik geschlagener Kinder. Frau Satô hat eine Liebesehe geschlossen, ihr Mann ist Direktor in einem Unternehmen. Zum Zeitpunkt des Interviews ist ihr Sohn 21 Jahre alt. Das Gespräch findet in ihrer Praxis statt, die in dem Einfamilienhaus untergebracht ist, in dem sie auch wohnt.
Verglichen mit der Zeit vor 20 Jahren hat sich sehr viel geändert. Heute kommt zum Beispiel eine Frau zu mir, die mit jemandem zusammenlebte, sich trennte und sich jetzt fragt, mit wem sie als nächstes zusammenleben soll... Oder eine andere erzählt locker: "Er war meine erste Erfahrung"... Oder auf Seiten der Männer: Er hat eine Frau getroffen und ging mit ihr sofort eine intime Beziehung ein (shinmitsuna kankei).
Es gibt mehr Leute, die mit Leichtigkeit über solche Themen sprechen können. Früher war es unvorstellbar, solche Dinge auszusprechen. Die Veränderung diesbezüglich in den letzten zehn Jahren ist enorm. Die Sexualmoral hat in den vergangenen zehn Jahren stark abgenommen. Seit wir den Krieg verloren haben, gibt es gleiche Rechte für Männer und Frauen. Zuerst betraf das nur die äußere Form. Die Sitten und die Art zu leben blieben in Wirklichkeit gleich wie in der alten Zeit. Frauen mit höherer Bildung wie ich waren eine Minderheit. Als Frau war ich ein Sonderling (kawarimono), weil ich nach der Heirat Studium und Arbeit fortsetzte. Erst zirka 30 Jahre nach dem Krieg begann sich ein Wandel bemerkbar zu machen. Meine Freundinnen hielten mich für verschroben, wenn sie mir das auch nicht ins Gesicht sagten. Aber heute lassen sie alle ihre eigenen Töchter studieren und berufstätig werden. Sie lassen nun ihre Töchter denselben Weg einschlagen, den ich damals gegangen bin (lacht). Ich glaube, diese Veränderung hat viel mit wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Faktoren zu tun. Durch das Fernsehen werden den Frauen neue Entwicklungen, die sie betreffen, in positiver Weise nahegebracht. Frauen sind stark im Aufnehmen, glaube ich.
Außerdem haben Frauen durch Waschmaschinen, Staubsauger etc. Freizeit gewonnen. Früher waren Frauen erschöpft, wenn sie die Hausarbeit erledigt hatten, jetzt gehen sie in Einrichtungen für Erwachsenenbildung und nehmen dort sehr viele Anregungen auf.
Viele dieser Hausfrauen haben keinen Beruf gelernt und können daher nicht voll arbeiten, wollen aber wenigstens als Teilzeitkraft in der Gesellschaft draußen tätig sein. Sie wollen Geld verdienen, eigenes Geld verdienen. Dann können sie zum ersten Mal in ihrem Leben Geld nach eigenem Gutdünken ausgeben. Sie fühlen sich reich.

F.: Die Töchter dieser Frauen haben in ihrer Kindheit diese Entwicklung beobachtet und mehr Selbstbewußtsein als ihre Mütter. Kann man das so sagen?
Es scheint so. Junge Frauen können sich auf den Weg zur Elite machen ebenso wie junge Männer. Aber natürlich ist es für die Frauen insgesamt noch sehr schwierig, wenn sie in die Gesellschaft hinausgehen. Darum gibt es auch viele junge Frauen, die sich denken: "Ich möchte mich nicht so anstrengen, lieber heirate ich, bleibe zu Hause, lasse den Mann Geld verdienen, die Männer sind sowieso nicht mehr so tyrannisch wie früher. Zu Hause kann ich tun, was ich will, meinen Mittagsschlaf machen... "

F.: Gibt es neue Probleme, die dieser Wandel mit sich gebracht hat?
Am Anfang dieser Entwicklung kannten sich die Frauen, die als Teilzeitkräfte in die Gesellschaft hinausgingen, in der Welt nicht aus. Zuerst waren sie dem Vater untergeordnet, nach der Heirat dem Ehemann. Sie hatten keine Verbindung zur wirklichen Gesellschaft. Darum kam es zu ziemlichen Problemen mit den Männern.
Zum Beispiel, wenn der Chef zu freundlich wurde. Die sogenannte Unmoral (furin) wurde ein Problem! Eine neue Liebe neben dem Ehemann. Das ist ziemlich häufig gewesen. Wahrscheinlich. Und das haben die Massenmedien aufgenommen und es ist zum sogenannten furin bûmu (Unmoral-Boom) gekommen (lacht). Jeder hat diesen Begriff im Mund gehabt. So unmoralisch, wie die Zeitungen tun, geht es wahrscheinlich gar nicht zu, aber auf alle Fälle spricht man jetzt das Wort "Unmoral" so leicht aus wie "Eiscreme".

F.: Was beinhaltet dieser Begriff? Flirten oder wirkliche sexuelle Beziehungen?
Alles mögliche. Auf den Leserbriefseiten von Frauenzeitungen können Sie diesbezüglich Verschiedenstes erfahren (lacht sehr).

F.: Sie haben also in Ihrer Arbeit mit dem Problem der "Unmoral" zu tun?

Sehnsucht nach Zärtlichkeit

Unter meinen Klientinnen sind wenige, die ihre Ehemänner betrügen. Ich schildere diesbezüglich eher das allgemeine Klima.
Im Gegenteil, zu mir kommen 40-, 50jährige Frauen, die sagen: "Sex ist mir widerwärtig!" "Ich habe es satt!" "Ich möchte, daß mein Mann mich in Ruhe läßt!" (Frau Satô betont das sehr stark). Sehr häufig ist das. Schuld daran sind die Männer (otoko ga warui). Diese Frauen haben das Gefühl, in keiner Weise selbst wichtig genommen und geliebt zu werden. Das ist am Tag so. Und auch in der Nacht beim Sex ist das so. Wenn sie dann schon sehr lange, zwei, drei Jahre zu mir zur Analyse kommen, wenn sie soweit sind, daß sie wirklich ehrlich darüber reden können, was in ihrem Herzen los ist, dann stellt sich heraus - und das hat mit Sexualität gar nicht viel zu tun - : sie wünschen sich vor dem Sterben nur, daß sie wenigstens einmal ein Mensch zärtlich liebt (yasashiku aishite iru) und sie versteht... Wenn sie so jemanden einmal getroffen haben, möchten sie sterben (sô iu hito o tsukiatte kara shinitai). Sie tun mir sehr leid (totemo kawaisô).
Bis es so weit kommt, dauert es sehr lange. Am Anfang sagen sie: "Widerwärtig! Ich will von den Männern nichts mehr wissen. Einer ist mehr als genug!" Weil sie eben einen zärtlichen Mann bisher nicht kennengelernt haben. Wenn man aber in die Tiefe dringt, kommt heraus, daß sie sich nichts so sehnlich wünschen wie einen zärtlichen Mann.
Hauptsächlich kommen Frauen wegen ihrer unglücklichen Beziehungen zu den Männern zu mir. Sie sind sehr unglücklich, diese Beziehungen.
Die japanischen Männer betrügen ihre Frauen häufig. Um Ihnen nur ein trauriges Beispiel zu erzählen:
In jungen Jahren ging der Mann oft fort, er trank und amüsierte sich mit Frauen, kam in der Nacht nicht nach Hause. Es gab keine Sexualität für die Frau. Wenn sie, weil sie sich einsam fühlte, von sich aus zum Mann kam, sagte er: "Wenn eine Frau von sich aus vom Mann Sex will, ist sie eine Hure!" Nach einem halben Jahr kam die Frau wieder, weil sie einsam war, und wieder hörte sie dasselbe: "Hure!" Nachdem das zwei-, dreimal vorgekommen war, dachte die Frau: "Nie mehr, niemals wieder!"
Jetzt wird der Mann 50, er wird ruhiger, er mag nicht mehr so viel fortgehen und kommt seinerseits zu ihr. Sie lehnt ab. Er sagt: "Bin ich dir denn zuwider? Du bist egoistisch und kalt (tsumetai)!" Der Mann glaubt, er sei völlig im Recht. Es ist selbstverständlich für ihn, daß eine Frau alles aushält. Denn das ist eine gute Ehefrau: Eine Frau, die alles aushält (nandemo gaman suru onna).
Junge Frauen, denen so etwas passiert, verlassen den Ehemann sofort. Die Frauen, die zu mir kommen, wollen sich alle scheiden lassen. Aber für Frauen in meinem Alter, mit 50 oder mit 60, ist eine Scheidung oft nicht mehr durchführbar, und so leben sie innerhalb der Ehe als ob sie geschieden wären (kateinai rikon).

F.: Frau Matsuo, eine Scheidungsanwältin, hat mir erzählt, daß junge Frauen oft sehr verwöhnt sind und sich sehr schnell scheiden lassen, auch, weil sie nicht mehr gelernt haben, etwas auszuhalten und Geduld zu haben.
Die Art und Weise, wie sich das Phänomen zeigt, hat sich vielleicht zwischen den Generationen geändert, aber wenn man ihm auf den Grund geht, ist es das Gleiche: Frauen haben noch nicht gelernt, ihre eigenen Bedürfnisse zu erkennen, diese dann an die Realität anzupassen und konsequent durchzuhalten, wenn es darum, geht, sie zu erfüllen.
Sie sind in dem Sinn erzogen worden, daß eine Frau alles auszuhalten hat und daß ein Mann etwas Besonderes ist. Wenn nun eine so erzogene Frau die Möglichkeit zum Handeln bekommt, macht sie dasselbe, was sie vorher bei den Männern gesehen hat. Es ist nicht so, daß Frauen jetzt keinem Zwang mehr unterliegen, selbst wenn manche jetzt statt "alles aushalten" "nichts mehr aushalten" wollen. Sie kennen die richtige Lebensweise zwischen den Polen noch nicht. Sie wissen noch nicht, auf welche Weise sie sowohl ihre eigenen wie auch die Bedürfnisse des Partners erfüllen können.
Frauen haben von Geburt an in sich das Bewußtsein, in einer Männergesellschaft Menschen zweiter Klasse zu sein. "Ich bin nur eine Frau", lernen sie von Kindheit an und reproduzieren das immer wieder. Zu kleinen Mädchen sagen die Eltern nicht: "Du bist hundertprozentig wunderbar, du bist schön, du bist energisch. Wenn du groß bist, kannst du in allen Bereichen so leben, wie du selbst es möchtest. Die Gesellschaft nimmt dich an, so wie du bist". So sehen Frauen nicht einmal ihre eigenen Töchter. Die Zeiten haben sich geändert. Mädchen studieren heute an Kurzuniversitäten. Damit sie dann heiraten können! Dieses Bewußtsein ist noch stark in den Eltern. Wenn ich ganz exakt formuliere, so haben Frauen - mich eingeschlossen - in erster Linie noch immer die Strategie im Sinn: "Aushalten, aushalten, aushalten (gaman suru). Als erstes die eigenen Wünsche aufgeben. Die Wünsche der Umgebung erfüllen. Nur, um letztlich einen guten Mann erwischen zu können. Gut in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht.
Diese yasashisa - Zärtlichkeit, Einfühlsamkeit, Sanftmut - von der jetzt geredet wird, ist ein ziemlich verwaschener Begriff. Die Frauen wollen keine traditionellen, tyrannischen Männer. Unter yasashii stellen sie sich aber nicht viel mehr vor als das.
Wirkliche yasashisa - Zärtlichkeit, Einfühlsamkeit - kennen Männer nicht und kennen Frauen nicht.
Vielleicht könnte man es so sagen: Das traditionelle japanische Männerbild enthält kein Element von yasashisa. Yasashii ist "weibisch", das heißt: "Du bist wie eine Frau". Ein Mann muß "herrisch" sein: keine Gefühle zeigen, das ist das Wichtigste.So ist ein "männlicher Mann".
Heute hat sich das geändert, die jungen Frauen wollen einen Mann, der yasashii ist. Nur, die Frauen, die zu mir kommen, haben keinen zärtlichen, einfühlsamen Mann. Sie haben geglaubt, er sei so, als sie heirateten, und in Wirklichkeit war er nur schwach, einer, der nicht entscheiden kann, einer, auf den kein Verlaß ist. Bei Frauen gibt es zwei Pole: Daß sie nur ertragen oder daß sie das Ertragen völlig satt haben. Dementsprechend gibt es auch bei den Männern zwei Pole: Daß sie tyrannisch sind oder daß sie schwach sind und nicht wissen, was sie tun sollen.
Es gibt Fälle, in denen der Mann jahrzehntelang herumschreit: "Tee!" Und wenn die Frau stirbt, weiß er nicht einmal, wie er sich selbst Tee machen könnte. Er wußte, daß sie von ihm abhängig war, aber er wäre nie auf die Idee gekommen, daß er auch von ihr abhängig war.
Es handelte sich um gegenseitige Abhängigkeit, aber nur im Fall der Frau war das klar. Die Männer sind abhängig in der detaillierten alltäglichen Fürsorge, aber sie sind sich dessen nicht bewußt.

F.: Die Frauen sind also wirtschaftlich abhängig von den Männern, die Männer in der alltäglichen Fürsorge von den Frauen. Gibt es auch eine gefühlsmäßige Abhängigkeit?
Japanische Frauen sind innerhalb der Grenzen der Frauenrolle, die von den Männern festgelegt worden sind, viel gesicherter als Frauen im Westen. Im Ausland wird der Frau das Wirtschaftsgeld gegeben. In Japan gibt der Mann alles der Frau und er bekommt von ihr ein Taschengeld. So gesehen sind die japanischen Frauen sehr unabhängig.

F.: Das ist aber wieder eine wirtschaftliche Sache. Ich frage nach dem emotionellen Bereich, weil ich wissen möchte, ob die Erwartungen von Frauen in Japan an die Heirat anders sind als in Europa. Bei uns ist Heirat mit Liebe verbunden. Liebe umfaßt Sexualität und Gefühl. Die Erwartungen sind sehr groß, daher auch die Enttäuschung. Sexualität, Gefühl, Interessen, alles soll bei den Partnern übereinstimmen. In Japan erwartet man das nicht, daß man sich auf allen Ebenen vertraut und versteht, ist mein Eindruck.
In Japan ist es nicht üblich, daß Ehepaare zu zweit ausgehen, tanzen, ins Kino, essen. Das ist nur möglich, bis Kinder kommen. Danach ist sie "die alte Ehefrau". Vielleicht ist das der Unterschied zwischen uns und Europa?

F.: Ich glaube, daß die Wirklichkeit auch in Europa so aussieht. Daher gibt es viele Scheidungen, weil die Vertrautheit und die Freude aneinander aufhört und Streit, Langeweile, Untreue auftreten. Aber ist es nicht so, daß sich das "Idealbild" unterscheidet? (Frau Satô denkt lange nach).
Ich glaube, in Japan gibt es das kaum, daß eine Frau sich jemanden anvertraut. Dem Mann kann sie sich nicht anvertrauen. Der Familie des Mannes auch nicht. Bei der eigenen Familie kann sie jammern. Wenn eine Frau das Wort "Scheidung" erwähnt, heißt es aber: "Halte durch!" Männliche Freunde gibt es nicht. Freundinnen? Wenn sie Freundinnen hat, die sich solche Sachen anhören, ist das ein großes Glück für eine Frau. Denn wie eine Frau eingeschätzt wird, ist von ihrem Mann abhängig. Daher herrscht auch in Frauenfreundschaften oft das Konkurrenzdenken in bezug auf die Ehemänner. Das verhinderte echte Freundschaftsgefühle. Bestand da nicht in Wirklichkeit eine enorme Einsamkeit?

F.: Sie sprechen in der Vergangenheitsform. Hat sich diesbezüglich etwas geändert?
Jetzt sind zumindest die Bindungen von Frauen stärker geworden. Ich glaube, verglichen mit früher, sind Frauenfreundschaften aufrichtiger geworden. Frauenfreundschaften kamen früher nicht zustande, weil Frauen noch mehr als heute von den Männern abhängig waren.

F.: Sind die Beziehungen zwischen Mutter und Kindern nicht so vertraut, daß sich Frauen aussprechen können?
Vom psychoanalytischen Standpunkt aus gesehen sind wirklich vertraute Gespräche auch zwischen Müttern und Kindern äußerst selten. Allgemeine Gespräche gibt es natürlich. Aber daß wirklich jemand zuhört, kommt selten vor. Es gibt die oberflächliche Vertrautheit und die wirkliche Nähe. Viele Menschen halten wirkliche Nähe für nicht wichtig.

Die Verdrängung kommt zuerst

F.: Haben nicht alle Menschen, Männer, Frauen, Japaner/innen und Österreicher/innen den Wunsch nach Vertrautheit und das Bedürfnis nach Zuwendung. Diese Wünsche werden scheinbar allmählich verdrängt?
Im Gegenteil - weil es Verdrängung gibt, lassen es die Menschen nicht zu, daß andere die eigene Einsamkeit und Verzweiflung sehen.
Schon in der Kinderzeit verdrängen sie das Bedürfnis nach der Liebe der Eltern und den Schmerz, daß man sie nicht erhält, denn sie möchten diese Zurückweisung nicht noch einmal erleben.
Wenn die Menschen erwachsen werden, denken sie noch einmal: "Ich möchte die Liebe des Mannes, ich möchte vor allem Liebe, ich möchte von jemandem geliebt werden." Wenn die Frau die Hand ausstreckt, erhält sie wieder nichts. Wenn eine Frau Sex möchte, wird sie "Hure" genannt. So gewöhnt sie sich ab, die Hand auszustrecken.
Ich glaube, die Verdrängung kommt zuerst. Wenn die Frau sagte: "Gib, gib!", könnte es sein, daß der Angesprochene sich denkt: "Ich gebe dir, was du dir so wünscht!" Aber weil Verdrängung da ist, spürt sie in erster Linie die Scham, ihren Wunsch zuzugeben. Die Angst, daß der andere, wenn sie die Hand ausstreckt, sagt: "Du bist eine Bettlerin", ist im Vordergrund. Das Bedürfnis ist sehr, sehr stark, aber weil sie schon resigniert hat, daß es doch nicht erfüllt wird, sagt sie: "Ich brauche so etwas nicht!" Erst nach Jahren der Analyse tritt der wahre Wunsch zutage.

F.: Ist die Verdrängung in Japan nicht besonders groß? Die Menschen machen den Eindruck großer Anspannung (kinchô). Besonders die Männer.
So? Meine persönliche Meinung ist die: Japan ist ein Inselland. Man kann nirgendwohin. Wenn man kämpft und besiegt wird, gibt es keinen Ort zum Fliehen. Wenn man verliert, stirbt man. Es gibt nichts anderes, als den Kopf zu senken, wenn man leben möchte. Die Menschen gehen dahin, schauen weder nach rechts noch nach links, vermeiden Schwierigkeiten. Das ist traditionell so. Zum Beispiel in der Landwirtschaft: Man arbeitete gemeinsam, man war darauf angewiesen. Allein konnte man nicht leben. Als Sanktion gab es das "murahachibu" - Ausgestoßenwerden aus der Dorfgemeinschaft. Wer ausgestoßen wird, kann nicht überleben. Es gibt keinen Fluchtweg.

Männer-Probleme

F.: Welche Probleme haben ihre männlichen Klienten?
Zum Beispiel ein Angestellter: Er geht jeden Tag in der Früh aus dem Haus, scheinbar ins Büro, aber er bringt es nicht über sich, wirklich hinzugehen... Etwas anders gelagert als die üblichen Fälle ist vielleicht der Mann, der von seiner Frau geschieden ist und herkommt, weil er die Ursache für die Scheidung herausbekommen möchte. Oder ein anderer, der sein Studium nicht fertig machen kann.
Natürlich unterscheidet sich jeder individuelle Fall vom anderen. Aber alle haben ihren Ausgangspunkt in der Beziehung zu ihrer Familie. Es sind Probleme des Patriarchats. Einer meiner Klienten ist nicht der Erstgeborene, sondern der "zweite Sohn". Wenn er von der Schule zurückkam und den Kuchen aß, den er vorfand, wurde die die Großmutter zornig. Denn das war der Kuchen für den älteren Bruder. Der erste Sohn ist der "Nachfolger", er ist etwas Besonderes. Die Mutter hätte gerne beiden Kindern Kuchen gegeben. Aber die Schwiegermutter erlaubte das nur für den Ältesten. Natürlich haßte der zweite Sohn die Großeltern sehr. Wenn er so etwas sagte, wandte sich der Zorn der Großmutter gegen die Mutter, die Schwiegertochter: "Wegen deiner schlechten Erziehung!" Um der Mutter keine Probleme zu machen, unterdrückte der Sohn seinen Zorn und hielt durch. Er konnte den Zorn in seiner Kindheit nicht ausleben. Viele Schwierigkeiten haben ihren Ursprung im partriarchalischen System. Natürlich sind auch die Männer Opfer - sowohl die zweiten wie auch die ersten Söhne.

F.: Gibt es noch die Isolation von Männern und Frauen von Kindheit an?
Ja, sicher.
Der konfuzianische Einfluß ist noch vorhanden: "Wenn ein Bub und ein Mädchen sieben Jahre alt werden, setze sie nicht mehr zusammen!"
Als wir den Krieg verloren, nahm die Koedukation zu. Aber in Wirklichkeit gab es noch Eltern, die nicht erlaubten, daß Buben und Mädchen zusammen spielen. Seit meiner Jugend gibt es Fortschritte: Männer und Frauen können heute frei miteinander sprechen. Aber inwieweit es nicht ganz tief im Innern noch gegenseitig Hemmungen gibt, weiß ich nicht.

F.: Wie verkehren junge Leute heute sexuell?
Zum Beispiel möchte ein Bub in der ersten Klasse Mittelschule - also mit zwölf - zeigen, daß er schon ein Mann ist und gibt an, er habe schon mit einigen Mädchen der Stadt geschlafen. Der Preis sei soundso gewesen...
Die Mädchen in diesem Alter schenken Buben, die ihnen gefallen, zur Abschlußfeier Präservative. Oder sie bitten einen anderen, daß er an ihrer Stelle ihrem Schwarm ein Präservativ überreicht. Solche Dinge sind ganz normal. Nur - Kinder mit einer gewissen Sicherheit haben das nicht nötig.
Sexualität vor der Ehe gibt es heute. Vor 20 Jahren war das anders. Jetzt ist es so, daß in bezug auf die Burschen weniger seine Anständigkeit zählt, als daß er das Mädchen ausführen muß, sonst wird er abgelehnt. Wenn einer nicht küssen und umarmen will, ist er dann nicht impotent? Früher wollte die Frau, daß der Mann es ernst meint, heute wollen die Mädchen sich amüsieren, und die Männer versichern, wie ernst sie es meinen. Irgendwie hat sich das scheinbar umgedreht.
Die Eltern verstehen das oft nicht. Die Mütter sind häufig ambivalent, glaube ich. Als sie selbst jung waren, wurden sie von den Männern von oben herab behandelt. Die Tochter hingegen kommt ihr gefühllos und hart vor.

Die Wiederherstellung des Vertrauens

F.: Was ist das Ziel Ihrer Therapie. Wo ist Wandel nötig?
Es gibt viele Seiten, von denen her man das Ganze betrachten kann. Da ist die Wiederherstellung des grundlegenden Vertrauens. Die Menschen haben sich gegenüber, anderen gegenüber und der Welt gegenüber starke innere Zweifel.
Dieses Vertrauen ist aber Vorbedingung für das Wiedererstehen des Selbst, für die Selbstsicherheit. Das ist wiederum die Voraussetzung, um aus der Abhängigkeit auszubrechen. Ich habe keine feministische Therapiegruppe, habe aber viel Interesse an speziellen Frauenproblemen. Wie wirkt sich das patriarchale System auf Frauen und auf Männer aus? Ich möchte mithelfen, diese Phänomene zu beseitigen.
Es ist wichtig, die psychotherapeutische Denkweise unter die Menschen zu bringen. Und Geduld ist nötig. Das Bewußtsein der Menschen ändert sich langsam.

Noriko Satô schilderte in einem ausführlichen Schreiben Anfang 1991 Entwicklungen der vergangenen zwei bis drei Jahre. Ich fasse zusammen:
Keinerlei Veränderungen haben sich in ihrem äußerlichen Leben ergeben.
ritik äußert sie an der zunehmenden Oberflächlichkeit und Konsumorientiertheit vieler junger Frauen. Man spricht davon, daß sich diese Mädchen für Männer nur interessieren, wenn sie ein Auto haben, großzügig mit Geschenken sind und in bezug auf Heirat die sogenannten "drei Superlative" betreffend Ausbildung, Körpergröße und Einkommen vorweisen können.
Für Frauen mit Willenskraft und Qualifikation sei die japanische Gesellschaft noch immer grundsätzlich versperrt. Es gebe viele Bereiche, in denen sich nichts geändert habe. Aber zur selben Zeit nehme die Gruppe der Frauen zu, die angesichts dieser Situation nicht resignieren oder nur jammern, sondern sich mit eigener Kraft einen Weg eröffnen.
Seit 1989 die Bewegung gegen sexuelle Belästigung (sexual harassment) öffentliche Anerkennung erhalte, klagen enorm viele Frauen sowohl in ihrer privaten Praxis als auch in der Radioberatung über sexuelle Verletzungen in der Vergangenheit. Sie berichten von Vergewaltigungen oder sexuellem Mißbrauch durch den Vater. Diese Frauen können nun die Geheimnisse, die sie bisher in ihrer Brust verschlossen hatten und von denen sie geglaubt hatten, daß sie damit sterben müßten, zum ersten Mal jemandem erzählen und mit ihrer Anklage in der Gesellschaft etwas bewegen.
Frauen in mittleren und höherem Alter, die sagen: "Ich möchte meinen Mann umbringen", seien unter ihren Klientinnen in den letzten zwei, drei Jahren erschreckend häufig geworden. In einer Atmosphäre, in der sich die soziale Norm "Erdulden ist der Frauen Tugend (gaman koso onna no bidoku)" ändert, trauen sich diese Frauen offensichtlich einer Frau ihres Alters gegenüber ohne Angst ihre wirklichen Gefühle zu zeigen. Junge weibliche oder männliche Therapeuten könnten wahrscheinlich niemals in derselben Weise mitfühlen, welch grauenhafter sozialer Druck Frauen zugefügt worden ist.
Einen zweiten Brief vom 1. März, in dem sie mir auf detaillierte Fragen geantwortet hat, schließt Noriko Satô:
Ich war gerade beruflich zur Einzelfall-Supervision im schneebedeckten Hokkaidô. Nach der großen Tagung sind sieben von uns im Thermalbad von Asahidake geblieben und haben in entspannter Atmosphäre und schon im Yukata bis tief in die Nacht diskutiert. Das ist eine Forschungsgruppe nach japanischer Art und ich habe das sehr genossen. Wie gut, daß der Golfkrieg zu Ende ist ... "

Ruth Linhart | Japanologie | Onna da kara Email: ruth.linhart(a)chello.at