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Das weisse Haus Gol Baithak

12.3.1995, Kathmandu, Durbar Platz


Shiva und Parvati am Durbar Platz von Kathmandu
Der Geschmack des Safts in der Früh, das war Nepal. Karachi, Air France Hotel, große weite goldene exotisch blühende Welt. Frühstück in der Rana-Villa, Kashi, der serviert. Garten mit Grapefruits und Rosen. Die großen Pappeln seien abgestorben, sagte der Rana. Der Grapefruitbaum auch. Der Bananenbaum ist ebenfalls verschwunden. Und die Rosenbüsche sind weg. Dort steht ja jetzt ein anderes Haus. Aber es gibt noch den Orangenbaum neben dem Erker.

Der Durbar Platz von Kathmandu. Viel Autolärm, Hundebellen, Hupen, Flugzeugrauschen, Menschen, zuerst eine Flöte, jetzt wieder. Fahrradklingeln. Wir wurden noch nicht angeredet. Wir sitzen unter dem Pagodendach des Shiva-Tempels und schauen hinunter. Einige Touristen, einige nepalesische Männer und Buben. Auf dem Platz reger Durchzugsverkehr, aber hier doch weniger Autos und Abgase als anderswo. Die Sonne scheint. Eine Mutter mit Tikka spricht auf ihr weinendes Kind ein. Jedesmal, wenn ich auf den Platz schaue, geht eine Frau im roten Sari, fährt ein Fahrradfahrer, schlendern Burschen umarmt vorbei. Sonntag - hier Montag.
Jetzt ist die Ruhe aus, ein Mädchen mit dem coin-tick. Zwischen den Pagoden treibt ein riesiger Baum hellgrün aus. Nun ein Einachsschlepper, ein japanischer. Eine Motor-Riksha. Das Mädchen hat das Betteln aufgegeben. Moderne Musik, Trommeln, irgendein Pop, wenn nicht Punk. Es sind wahrscheinlich auch Touristen, aus Indien, die auf den Stufen sitzen. Ein Träger geht, mit Stirnband, großer Last, Hände im Nacken verschränkt. Einer trägt eine Riesenlast Pappendeckel auf dem Kopf. Einer schleppt schwer an einer Propangasflasche. Die Leute, die so schwer tragen, sind fast alle winzig und mager. Manche Männer mit Topis, langem Hemd, Gilet, weißem Schal, weißen Hosen, ein alter Mann in Shorts. Jetzt beginnen viele Touristen aufzukreuzen, es ist 1/2 12 Uhr.

Wir sitzen unter dem Spruchband "Kathmandu Durbar Square Cleaning Club. Hanumandhoka Kathmandu".
Schnitzwerk
Schräg gegenüber ist das Haus der Kumari. Touristen scharen sich davor. Schönstes Schnitzwerk an den Fenstern und am Tor, dunkel gefärbte Ziegel. Aber auch dieses Haus schaut etwas heruntergekommen aus. Hier habe ich im Herbst 1958, wahrscheinlich beim Indra Chatra-Fest, die Kumari auf einem Elefanten reiten gesehen (glaube ich zumindest). Die Kumari ist eine lebende Göttin, die Inkarnation der Göttin Durga (Baedeker) oder der Göttin Taleju, welche die Patronin des nepalesischen Königshauses ist (The Times Travel Library Kathmandu). Ein kleines Mädchen aus Kathmandu wird von den königlichen Priestern als geeignet für die Rolle der Kumari ausgewählt und lebt bis zu ihrer Pubertät in der Kumari-Residenz am Durbar Platz. Hier empfängt sie jedes Jahr einmal den König und läßt sich verehren.

Der Duft, die Gerüche hier, besser Gestänke, von denen ich Hans immer erzählt habe, daß sie unbeschreiblich sind. (Der Tourist, der unter mir auf einer Stufe sitzt, hat einen golden glänzenden Kukri erworben.) Der Geruch: süß, verdorben, rauchstäbchenartig, Scheiße, Urin, Blumen, schlechtes Fleisch, Spucke und Schlatz. Mal hat der Geruch diese Nuance, mal jene, aber er ist immer ein fremder Geruch, ein leicht ekliger. Ob das früher auch so war, ohne Rauch und mit weniger Mist? In der Früh, vor dem Aufstehen noch im Bett, berieten Hans und ich, was hier nötig wäre, um die Armut und Krankheit zu verringern. Mir fiel als erstes ein System für die Müllentsorgung ein, eine Abwässerentsorgung. (Jetzt wimmelt es hier von Touristen.)
Ja, und natürlich gute Bildung für alle, und das Wichtigste, die Einsicht in die Notwendigkeit der Geburtenplanung. Sechs bis sieben Kinder pro Familie und seit 1958 eine Vervierfachung der Bevölkerung! Aber alle Rezepte müßten die Traditionen und Strukturen berücksichtigen. Dass Frauen im Bus getrennt von den Männern sitzen und mit fremden Männern nicht reden dürfen, um nur ein Beispiel zu nennen - all das muß einberechnet werden, wenn irgendetwas einen Sinn haben soll. Die fettgesichtigen Ranas, Adeligen, Angehörigen der Königsfamilie und anderen, die sich neben den Hütten die Protzvillen bauen, die haben wahrscheinlich ganz andere Interessen als gutmeinende Entwicklungshelfer, eher die der großen Firmen und Banken, die Reichtum schöpfen aus der Armut, die es hier gibt. Aber wie die Kommunisten hier denken, weiß ich auch nicht und wie lange die sich halten. Es gibt jedenfalls große, größte Unterschiede zwischen Reich und den vielen Armen, zwischen Frauen und Männern, und gesünder können die Leute nicht werden, solange nichts gegen den Mist, die schlechte Luft und das verdorbene Wasser getan wird.

Beim Frühstück war Astrid da, die Künstlerin, mit einer einundzwanzigjährigen Japanerin, Naomi, die sie und der Swami in Lumbini aufgeklaubt haben. Ich dolmetschte ein bißchen. Die Japanerin war verschüchtert, sagte zuerst kein Wort, aber dann taute sie auf, sie wolle "jibun o sagasu" (sich selbst suchen), daher kam sie nach Nepal. Vor einer Woche. Hat dem Thamel den Rücken gekehrt, fuhr nach Lumbini. Will durchhalten, bis April. "Yooteidoori ni gammanshitai", sagte sie. Die Eltern im Toyama-ken wolle sie nicht anrufen, die würden sich Sorgen machen. Sie wolle heute nach Patan. Und es sei fein, wenn sie zu Astrid und dem Swami kommen könnte bei Problemen. Am Schluß streckte sie die Arme aus, machte Fäuste, lachte über das ganze Gesicht und sagte: "Ja, ich versuch's in Patan! Try shimasu..." Nett war das.

Lieblingsplatz auf dem Dach. Sonnig, windig und blau wie gestern. Heute hat Hans den Sonnenschirm mit seinem Leatherman fixiert, gestern mit einem Messer, das funktionierte nicht so recht. Ich habe Halsweh, schon gestern in der Nacht und ich nahm Trimedil. Unsere Zimmerfrau hat gar keine Stimme und hustet. Angelika hatte dieselben Symptome. Der Kellner auf dem Dach ist sehr nett und putzt und staubt in den Zwischenräumen.

Heute, nachdem wir den Shiva-Tempel verlassen hatten, gingen wir zum Haus der Kumari. Wir konnten anstandlos hinein. Wir kauften keine Postkarten mit der Kumari, die freundliche Frauen rechts und links vom Eingang anboten. Im Hof war eine Gruppe Touristen mit Fremdenführer, und auf dem Boden saßen Frauen, die auf einem fix montierten Messer, zirka 30 cm hoch, in gemächlichem Tempo Scheiben von Gemüse zerkleinerten und achtlos auf einen Haufen schon geschnittenen Gemüses warfen. Sie hatten diese Stückchen in beiden Händen, wenn sie es ans Messer hielten. Eine Frau bearbeitete eine Melone oder einen Kürbis, die andere eine Kokosnuß. Aus den Fenstern des reich mit feinen Holzschnitzereien verzierten ersten Stockes gegenüber dem Eingangstor schaute links ein größeres Mädchen neugierig und sehnsüchtig in den Hof. Der Reiseführer, ein Nepali, kündigte die kleine Göttin an und kurz erschien sie am Fenster, auf dem Arm einer Frau, wahrscheinlich der Mutter ihrer göttlichen Zeit, sie kommt ja von der Familie weg und lebt bei jener, die immer die Kumari betreut. Ein kleines Mädchen, ich sage drei Jahre alt, Hans sagt, fünf Jahre, mit den schwarz umschminkten Augen, wie man sie auf vielen Fotos sieht, Kopfschmuck und einer Art Glitzerbrokatcape. Die Touristen applaudierten. Das Mädchen schaute kurz, ernst und unbewegt in den Innenhof herunter, dann gingen die Leute wieder vom Fenster weg. Anscheinend zeigt sich das Göttermädchen gegen Bakschisch.

Hier im Hotel wohnen wirklich sehr viele Damen, meistens mittleren Alters, so wie ich, auch jüngere, zu zweit oder alleine. Das kommt vielleicht davon, weil man in jedem Reiseführer liest, daß Frauen in Nepal allein reisen könnten.

Hanuman, Pashupatinath
Wir spazierten den Bansantpur-Platz ab, kauften Briefmarken, gingen zur New Road, auf das Dach des Rana-Plaza, Hans trank Tee, von dort sieht man den Ganesh Himal, den Langtang und andere hohe Berge. Der Himmel hinter den Tempeldächern und den Palastpagoden des Durbar Platzes war wolkenfrei und tiefblau. In den Hanuman Dhoka durfte man heute leider nicht hinein. "Closed today". Sonst hätten wir nochmals durch die Holzblümchen in alle vier Himmelsrichtungen schauen und die vielen Glöckchen hören können. Vorbei am Shiva-Tempel, Shiva- und Parvati-Tempel, dem Bhairab-Bildnis, dem Jagannath-Tempel, dem Taleju-Tempel. Zu diesem Riesentempel fanden wir keinen Eingang. Ich begann nun nach einer Tanka mit Shiva und Parvati zu fragen. Hier im Hotel hängt beim Eingang ein prachtvoller Tanka mit Shiva, wie er Parvati - Párvati heißt das - umarmt und die linke Hand um ihre linke Brust schließt. Eines hätte es gegeben, wunderschön, aber 600 Dollar! Wir mußten leider gehen. Es war wirklich ein sehr schönes Bild. Der Händler hatte einen zirka fünf Zentimeter langen rot angemalten Daumennagel und ein Foto von sich in den Regalen. Shiva und Parvati gab es sonst kaum in den Tanka-Geschäften. So kauften wir im Thamel ein Bild des Götterpaares Vishnu und Lakshmi um sechzig Dollar. Mir tut es um Shiva und Parvati richtig leid. Die Newari-Malerei ist fein, detailliert, liebevoll, mit leuchtend schönen Farben. Die Posen und Elemente der Bilder dürften streng vorgeschrieben sein. Shiva und Parvati gibt es von vorne, er hat die Hand an ihrer Brust, und seitlich gesehen. Dynamischer, aber weniger liebevoll. Die Händler antworteten auf unsere Frage: "Shiva und Parvati, no, no. But we have a very nice Ganesh..."

Am riesigen Bhairav-Relief kratzte eine Frau ein bißchen etwas zwischen seinen Zehen hervor und berührte ihre Stirn damit , girff dann mit der Hand nach dem linken Fuß und dem rechten. Die Berührung des heiligen Bildes ist anscheinend etwas sehr Wichtiges. Kala Bhairava, wie der Gott richtig heißt, ist die Inkarnation des schrecklichen Gottes Shiva.

Wir gingen quer durch zum Indra Chowk und weiter die schräge Gasse. Zuerst vorwiegend Stoffgeschäfte. Was für eine Pracht! Dann vor den Läden Säcke mit diversen Nüssen, Pistazien, Muskatnüssen. Säcke mit gold- orange- und senffarbenen pulverisierten Gewürzen, wahrscheinlich verschiedene Curry-Sorten. Es riecht und stinkt bald nach den Gewürzen bald nach Urin. Um den Kantipath zu vermeiden, bogen wir in hintere Gassen ohne Geschäfte. Normale Kathmanduer Wohnstraßen. Unbeschreiblich, wie ramponiert die alten Häuser anzuschauen sind und wieviel Dreck herumliegt. So wie ich mir vorstelle, daß bei uns im Mittelalter alles in die engen Gassen geworfen wurde, worauf immer wieder die Pest ausbrach. Vorher, in der belebten Straße, sahen wir einen Mann, der auf einem Rad einen ganzen Hühnerstall transportierte. Ein Bettler stieg Hans an.
Durch den Thamel zurück zum Hotel. Hans kaufte zwei Kashmir-Schals, für sich und seinen Vater.
Über die Bishnumati-Brücke. Hans fotographierte seine Lieblingsschweine im Mist, im Schatten eines Müllcontainers ruhend. Der Kuhkadaver steht noch immer in der Brühe. Jetzt packen wir.

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