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Das weisse Haus Gol Baithak

24.2.1995, Swayambunath


Vor dem Hotel Vajra
Gegen zwei Uhr nachmittags. Hotel Vajra. Wir sitzen im Freien. Trinken Tee. Etwas oberhalb von uns im Garten sitzt Sabine, die Eigentümerin oder Managerin des Hotels, mit einer Runde von Leuten, denen sie offensichtlich etwas erklärt. Hier ist es idyllisch. Sonne, Schatten, ein blühender Trompetenbaum. Wir waren auf Swayambunath. Doch zuerst noch Ergänzungen zum gestrigen Bericht:
Nach dem Besuch der "Library" verließen wir um zirka ein Uhr das Haus. Bewölkt. Über die Bashnumati-Brücke. Ich schicke nur wenige Blicke hinunter. Abfallhalden, Schweine, Menschen, Hunde, alle suchen dort irgendetwas zum Naschen.... Den Kuhkadaver im Wasser zeigt mir Hans erst beim Heimkommen. Auf der anderen Seite der Brücke ist ein Indra-Tempel.

Ab dem Thamel ist der Dreck etwas erträglicher. Da es die ganze Nacht geregnet hatte, Gatsch, dafür kein Staub. Wir gingen bis zum Royal Palace und schauten uns das Hotel Yak und Yeti an, das Nachfolgehotel des "Royal-Hotel", das 1958 das einzige Hotel in Kathmandu war. Irrwitzig. Eine riesige Burg gegen das Elend, wie Hans sagt. Bei der Abzweigung von der Kantipath-Straße steht eine Art Torbogen - wie ein japanisches Torii - das auf das "Yak & Yeti" hinweist. Der Weg zum Hotel ist eine "private road", "only for guests". Der Weg ist saubergekehrt. Vor der Hotelburg ein leerer großer Platz. Ein Taxi, Japaner in dunklen Anzügen vor dem spiegelnden Eingangsportal. Riesig und scheußlich. Nein, hier will ich nicht wohnen. An der breiten Kantipath-Straße stehen noch mehrere Vier- oder Fünfstern-Hotelpaläste. Einer ist das Hotel Annapurna. Im Cafe Annapurna nehmen wir eine "westliche Jause" zu uns. Ich brauche so etwas, im Magen ist mir dauernd flau, von der Luft, vom Schmutz, vom Anblick der heruntergewirtschafteten Stadt, von dem Hauch von Milch im Frühstückstee. Ich weiß nicht, wovon. Mir ist melancholisch zumute. Ich habe das Gefühl, es ist aussichtslos, drei Wochen hier zu sein und einen wirklichen Kontakt auch nur zu versuchen. Schauen ist alles, was möglich ist. Im Augenblick bin ich froh, wenn ich Ausländer sehe, weil ich mir denke, daß es denen vielleicht ebenso geht wie mir.
Am Durbar Platz in Kathmandu
Wir gingen weiter bis zum Rani Pokhari, dem "Bad der Königin". Ein großer Teich mitten in der Stadt, abgesperrt durch einen hohen Gitterzaun, von nicht sehr gepflegten Blumenrabatten eingesäumt. Anschließend wie schon am ersten Nachmittag, zum Basantpur Platz mit den vielen Andenken und zum Hanuman Dhoka-Palast. Es begann zu tröpfeln. Schließlich quer durch die Altstadt, den "Basar", zurück zum Hotel. Die Leute hier behängen die Tempel und Pagoden mit Rucksäcken, Schals, Koffer und was sie sonst noch verkaufen wollen. Sabine spricht mit englischsprachigen Gästen bei einem opulenten Essen über dies und das, hillers(?), dangers, enlightenment.
Wir kauften im Supermarkt am Darmapath einen Regenschirm. Abends aßen wir im Hotel. Ein Feuer prasselte. Es war gemütlich. Heute nach dem Frühstück waren wir in Swayambunath. Ich könnte schon viel schreiben: Schön sind die Gewänder der Frauen, die bunten Saris, die tibetanische Tracht und die Frauen in den zusammenpassenden Hosen, Jacken und Schals.

Nun sitzen wir schon beim Abendessen.
Was einem hier alles angeboten wird: Ganz offen am Fuße von Swayambunath "Marihuana?". "Want to change?" "Smoke?" Das mit gedämpfter Stimme sehr häufig. Die Anbieter, junge Burschen, drängen sich dabei dicht hinter die Schulter. "Taxi?" "Rikscha?" "Guide?" "Trekking?" Flöten aus diversen Hölzern. Bambus ist das Gewöhnlichste, besser ist Teak, noch besser Sandelholz. Kukris. Gebetssteine. Gebetsmühlen. Anhänger. Ketten, Ohrgehänge. Schalen aus Bronze, Holz, Messing, Silber, Plastik?
Handel von Devotionalien und Schmuck am Swayambunath
Wenn man an den Geschäften vorbeigeht, wird dir alles angeboten: Schals, Pullover, Stolas, Umlegetücher, Tischtücher, Pullover, Röcke, Hosen, Saris, Taschen, Rucksäcke, Anoraks, Koffer, Schmuck jeder Art, Geschirr, Silber, Statuen jeder Art. Dauernd wirst du angesprochen. Manchmal wirkt Ignorieren. Aber meistens nicht. Das Ärgste für mich war, als wir in Swayambunath die Stiege hinuntergingen. Gerade überholte mich eine hübsche Frau, sie drehte sich zu mir um und lächelte mich freundlich an. Da trat von links so eine Art Saddhu - sicher ein Pseudo-Saddhu - auf mich zu uns klatschte mir ein Tikka und einen Blumentorso auf die Stirn. Eine Segnung. Ich war verwirrt. Hans ließ es sich auch gefallen und suchte umständlich nach Geld. Er gab dem Mann zehn Rupien. Erst danach kam es mir, daß das eigentlich eine Schweinerei ist. Jemand ein Tikka zu geben, ist eine Segnung, etwas Friedliches, Wohlmeinendes. Das macht man nicht für Geld. Außerdem hasse ich es am meisten, wenn mir jemand hautnah auf den Leib rückt.
Die deutschen Ehepaare an den Nebentischen quasseln so laut und so viel, daß ich gar nicht mehr nachdenken kann!
Ach ja, der Schlangenbeschwörer!
Blick von einer Bagmatibrücke auf die Ghats
Gestern schlüpften wir nach der Mittagsruhe gemeinsam in den Schlafsack. Und dann fuhren wir mit dem Taxi zum Bagmati. Wir bekamen den Fluss aber gar nicht zu Gesicht. Bei der großen Brücke ist eine Baustelle. Und in die schmalen Pfade, die von der breiten Straße wegführten - ich vermute zu den Ghats - traute ich mich nicht. Am Fluß entlang ist scheinbar alles verbaut. Aber es gab auch Tempel. Wie an vielen Stellen der Stadt an dieser großen Straße ein Geschäft neben dem anderen. Die Nepal Eye-clinic, viele Brillengeschäfte. Hans sah eine Frau, die auf der Straße Tee ausschenkte. Mittlererweile wollte ich nicht mehr zum Bagmati, und ich wollte eigentlich auch nicht in das Gebiet hineingehen, wo vielleicht einmal unser Haus stand. Ich hatte Angst, vor der Dunkelheit nicht über die Brücke der Dämonen und Hunde bei unserem Hotel am anderen Ende der Stadt zurück zu sein. Die Taxifahrer wollen dann nicht mehr drüberfahren. Jedenfalls raste ich ziemlich hektisch herum, Hans mir nach. Ich entschloß mich bald, in Richtung Norden zurückzugehen. Zuerst verfolgten wir die große Straße südlich des Maiden. Mit dem Telegraphenamt und dem Finanzministerium. Alles ist ziemlich schäbig. In dem Telegraphenamt gab es einen nationalen und einen internationalen Teil. Beide schauten gleich verlassen und desolat in die Gegend. Dann diese Fußgängerbrücke beim Eingang zum Maiden. Die kenne ich. Ich glaube, da fuhren wir oft. Da lagen die Kühe auf der Straße. Da fuhr mein Papa mit dem Jeep und sonst gab es fast keine Autos. Heute unvorstellbar: Alles ohne Betonhäuser, ohne Autos, ohne Müll. Nur Reisfelder. Einfach nur Reisfelder. Sicher war es so. Sicher. Ja.
Wir bogen schließlich nach links zum Bhimsen Tower ab. Tauchten dort in das blauschwarze Menschen-, Häuser-, Geschäfte-, Auto- und Lärmgewirr der Gassen. Die vielen Rhikschas oder überdachten Dreiräder, die oft sehr rasant dahinrasen. Hier fuhren wir schon mit dem Taxi. Durch eine enge Gasse voller Leute, Fahrräder, Händler, rechts und links brausen sie in beide Richtungen (links fahrend), Autos - Autochens eher - meistens verlotterte, manchmal auch etwas Protziges. Die Lenker hupen ständig, um die Leute auseinanderzutreiben. Sie fahren auf einander zu und weichen erst im allerletzten Augenblick irgendwie aus. Kein Zebrastreifen auf den breiten Straßen gilt etwas. Getöse, Gedränge, blauschwarze Dreckluft, und aus den winzigen Geschäften winkt zum Teil Ramsch, aber es gibt auch wunderschöne Saristoffe, Edelsteine, Silber oder Gold. Wir gingen beim Goetheinstitut vorbei, das ich trotz Bemühungen nicht entdeckte, und gelangten irgendwie zur New Road.
Shiva und Parvati
Anschließend folgte unser heutiger Besuch am Durbar-Platz, dem ästhetischen Zentrum der Stadt.. Schönste Spätnachmittagssonne. Zirka 5 Uhr. Das Götterehepaar Shiva und Parvati schauten wie im Scheinwerferlicht gebadet freundlich, edel und bunt aus dem Dachfensterchen ihres Heiligtums. Hans fotografierte. Relativ wenige redeten ihn an, mich gar niemand. Die filigranen Schnitzereien an den Tempeln und Palästen leuchteten. So kamen wir bis zu dem Jagannath-Tempel vor dem Portal zum Hanuman Dhoka. Dort, wo die berühmten Sexakte am Fuße der die Pagodendächer abstützenden Holzstreben dargestellt sind. Niemand war herum, und Hans stieg rasch entschlossen hinauf auf das Tempelpodest, um diese Reliefs aus der Nähe zu fotographieren. Gleichzeitig nahm auch ein klein gewachsener Mann mit Körben über den Schultern und Turban auf dem Kopf die Stufe. Er hockte sich hin. Schauten da nicht Schlangen aus seinen Körben heraus? Hans stand drei, vier Meter entfernt mit erhobener Kamera. Der Mann nahm eine Schlange und noch eine aus dem Korb. Eine dicke mußte er mit einem leichten Schlag hochjagen. Hans sagte leise: "Python!" Sie wand sich in der Luft um den eigenen Leib. Der Kollege des Mannes, ebenso plötzlich aufgetaucht wie jener, ging jetzt auf Hans zu und redete auf ihn ein.
Der Schlangenbeschwörer
Ich schrie: "Hans, Hans!" Aber Hans rührte sich nicht, und unterhielt sich, abwehrend lächelnd, weiter mit dem Mann. Ich sah Hans schon mit der Python um den Hals. Einige Männer gruppierten sich neugierig zu Füßen der Tempelstufe und kommentierten den Vorgang. Es schaute so aus, als ob der Mann mit den Schlangen auch für die Einheimischen irgendwie sensationell und anrüchig wäre. Schließlich kletterte ich auf das Podest und zupfte Hans von hinten an der Lederjacke. Der Mann, der auf ihn einredete, rief beschwörend: "Madame, Madame..." Aber Hans nahm die Gelegenheit zur Flucht wahr und folgte mir. Der Mann lief uns, im Unterschied zu den Händlern, die etwas verkaufen wollen, nicht nach. Er hatte von Hans 300 Rupien verlangt und wollte ihm dafür wirklich die Python um den Hals legen und ihn so fotographieren.

Wir eilten weiter, über den Indra-chowk in Richtung Thamel, dem Touristenviertel im Norden des Stadtzentrums. Heute fielen mir im Vorbeihasten die wunderbar leuchtenden Seidenstoffe auf. Ich möchte Frauen fotographieren, mit diesen schönen Gewändern. Näher beim Thamel gab es dann tibetanisch gemusterte grobere Stoffe in den Geschäften. Auch einen solchen Stoffballen oder mehrere würde ich gerne mit nach Hause nehmen. Hans sagte: "Du könntest ja einen weiteren Koffer kaufen, das ist hier wirklich kein Problem!"

Heute früh beim Frühstück las ich ein bißchen in der Zeitung "Rising Nepal". Hans schmökerte in der Freitag-Beilage über Wasserkraft. Wie uneffektiv das 210 Megawatt-Kraftwerk ist, das Aruna-Kraftwerk, und daß man dies schon 1960 gewußt hätte und daß die richtige Lösung kleine Laufkraftwerke seien. Allein von den Zinsen der Verschuldung bei der Weltbank und beim Südasien-Entwicklungswerk könnte man bis zu 10 Laufkraftwerke finanzieren. Mit Flußumleitungen und Tunnels und ohne Stauwände. Ich las von der Trockenheit, die für die Bauern eine Katastrophe ist, weil der Monsum so wenig Regen brachte und daß die Bauern noch immer von den unzuverlässigen Monsunregen abhängen, statt die Flüsse, die an den Feldern vorbeifließen, für die Bewässerung zu nützen. Und von den gestrigen Ausschreitungen am Law-Campus der Tribuvhan-Universität, zwischen zwei Studentengruppierungen, der Free Nepal Student Union und der Nepal Student Union. Und von einer Frauentagung von NGO-Frauengruppen und von der Wichtigkeit der Frauen für die nachhaltige Landwirtschaft.

In der Früh herrschte Nebel. Er lichtete sich etwa um zehn Uhr. Eine weiße Bergkette tauchte auf. Die Sonne war mild. Wir gingen den Pilgerweg entlang nach Swayambunath. Natürlich wieder sehr verbaut, mit diversen Betonvillen, nicht verputzt, fast ruinenartig wirkend, andere mit Vorhängen an den Fenstern. Solche zweistöckige Häuser, Ruinen, Villen, stehen verstreut in der Landschaft herum. Dazwischen sind Gemüsefelder. Am Rand der Straße Händler, Läden, Werkstätten, auch eine Primary- und eine Secondary-School, Häuser in Bau, Hunde. Viele Hunde. Und Autos, viele Autos und Mopeds. Ziemlich viele Motorräder gibt es übrigens hier auch.
Affen am Swayambunath
Dann der steile Anstieg zur Stupa, die vielen Stufen, wo sich einstens die kleine Ruth und die kleine Ursula vor den Affen fürchteten. Jetzt Frauen, Kinder, die Mani-Steine verkaufen wollen. Weniger Hunde. Und Affen, die herzig herumhüpften. Dieser Aufstieg ist wirklich immer noch wie im Reiseführer. Über dem Ende der Stufen im strahlend blauen Himmel die goldenen Ringe des Turmes, die regenbogenfärbigen Fähnchen, die rund um ihn an langen Stricken aufgespannt sind und in diesem blauen Himmel flattern. Weiß die Rundung der Stupa, sehr bunt, blau, rot, die Augen des Buddha, lila und rot und viele andere Farben in den Gewändern der Pilgerinnen. Rund um die Stupa reiht sich auf dem Gipfel ein kleines Heiligtum an das andere. In einen tibetanischen Schrein traten Frauen, Männer und Kinder ohne Schuhe ein, beteten mit gefalteten Händen und gebeugten Köpfen, Hörner und Trommeln klangen heraus. Dort stand ich lange und beobachtete die Leute. In winzigen Geschäften ein Eldorado an hübschen Dingen. Von diesen Händlern wird man, solange man kein Interesse zeigt, nicht angesprochen, wenn man aber einmal ihre Waren ins Auge faßt, kommt man - komme ich - nicht mehr los, ohne einzukaufen. Ein alter Mann, der uns höflich mit "Namaste" begrüßte und dem es sogar gleichgültig schien, ob ich etwas kaufte oder nicht, hatte einen kleinen Ganesh aus Bergkristall, wie er behauptete, den ich allerliebst fand. Er kostete zirka 150 Schilling. Eine dicke Kette aus mehreren Reihen hunderter winziger Granaten - wenn es wahr ist, ich kanns nicht glauben - kostete nicht mehr als 100 Schilling. Für eine Kugel aus Bergkristall, die man zwischen Mittelfinger, Zeigefinger und Daumen rollen kann, zahlten wir 50 nepalesische Rupien. Aber die Frauen ohne Geschäft, die ständig Mani-Steine und geschmacklose Anhänger verkaufen wollten, nervten mich zeitweise stark. Die Hunde begannen, wie mir schien, bösartig zu bellen und es gab für meinen Geschmack zu viele Tauben. Der Ausblick klärte sich. Die Pagoden von Kathmandu tauchten auf und die Luft wurde sanft.
Ein bißchen ärgerlich war, daß der Nepali, der heute Rezeptionsdienst hat, uns am Abend nicht sehr freundlich behandelte. Vielleicht wollen wir bis zum 13. März hierbleiben. Nach Pokrah möchte ich aber schon. Für morgen haben wir ein Auto bestellt. Wir wissen noch nicht, wohin wir fahren werden. Nach Patan, nach Bahktapur, nach Dulikel, auf den Phulchowki oder oder... Heute war schon der dritte Tag hier. Die Zeit vergeht sehr schnell, wenn man erst um 9 Uhr aufsteht.

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