Ruth Linhart | Chronologie zu Chinoiserie | Literaturliste zu Chinoiserie


Sasameyuki - Die Schwestern Makioka

Überlegungen zur Einführung in die Themen "Japanische Literatur" und "Japanische Frauen" anläßlich der Dramatisierung des Romans Sasameyuki (Leichter Schnee, übersetzt im Deutschen als Die Schwestern Makioka) von Tanizaki Junichirô im Schauspielhaus Wien

 

Originaltitel: Sasameyuki , in der wörtlichen Übersetzung "Der feine Schnee". Die deutsche Übersetzung hat den Titel "Die Schwestern Makioka". Weiters u.a. übersetzt ins Englische als "The Makioka Sisters" und ins Französische als "Quatre soeurs".
Katô Shûichi schreibt in seiner "Geschichte der japanischen Literatur": „Gerade dieser Roman stellt einen Höhepunkt in Tanizakis Gesamtwerk dar, er ist einer der wenigen Meisterwerke japanischer Literatur aus der Kriegszeit, ja, ein Meilenstein in der Geschichte des japanischen Romans schlechthin.“ (S.565).

Entstehung und Publikation

Der Roman besteht aus drei Bänden. Der erste Teil des Romans wurde 1943 pubiziert, aber von der Militärzensur verboten. Der vollständige Roman erschien erst 1948.
Tanizaki Junichirô schreibt, dass er 1942, 1943 und 1944, diese drei Jahre, mit Enthusiasmus an dem Buch geschrieben habe, hingegen habe sein Eifer im unruhigen letzten Kriegsjahr nachgelassen. Dieses verbrachte er in Okayama und schrieb dort nur ca. 50 Seiten. Nach Kriegsende, als wieder Frieden war, schrieb er neuerlich mit Eifer an dem Werk, nun in Kyôto. Und ob mit Vergnügen oder nicht, er habe in den Schreibphasen täglich 6, 7 Stunden geschrieben und das dann zirka 20 Tage lang. Weil er lange an Sasameyuki gearbeitet habe, sei er schließlich körperlich sehr erschöpft gewesen.

Inhalt

Das Buch spielt zwischen Jänner 1936 und April 1941 in der Gegend von Osaka in Mitteljapan und ist eine Familiengeschichte, die sich in der wohlhabenden oberen Mittelschicht, nämlich in einer alten Kaufmannsfamilie, abspielt. Es geht um die vier Schwestern Makioka. Die zentralen Themen sind einerseits die standesgemäße Verheiratung der bereits überfälligen dritten Schwester Yukiko, anderseits das Ringen um ein selbständiges Leben der jüngsten Schwester Taeko, und zwar sowohl in der Ehe wie im Beruf.

Warum heißt das Buch Sasameyuki?

Wieso heißt das Buch im Original "sasameyuki - Feiner Schnee"? Schnee kommt in dem Roman so gut wie überhaupt nicht vor. Natürlich gibt es einige Interpretationen: Die naheliegenste ist die Verbindung mit Yukiko, einer der Hauptgestalten. Der Name "Yukiko" bedeutet übersetzt „Schnee-Kind“. Und es ist Yukikos feine traditionell japanische und schon etwas überständige Schönheit , die im Zentrum der Aufmerksamkeit steht.

Lyrische Metapher

Dieser feine zart fallende Schnee, der mit „sasameyuki“ gemeint ist, und der in Mitteljapan etwas durchaus Exotisches an sich hat, ist eine Metapher der Schönheit und Vergänglichkeit, die in der japanischen Dichtung eine so große Rolle spielt. Oft werden die Kirschenblüten, die man am meisten ganz knapp vor dem Abfallen schätzt bzw. wenn sie im Abfallen begriffen sind, mit den zart fallenden Schneeflocken verglichen.

Die Atmosphäre von „sasameyuki“ gibt das folgende Gedicht von Ki no Tsurayuki wieder (aus der auch im Roman erwähnten Gedichtssammlung Kokinwakashû):

Über den fallenden Schnee

kasumi tachi / ko no m no haru no / yuki fureba /
haba naki sato mo / hana zo chirikeru

Dunst steigt auf,
an den Bäumen schwellen Knospen –
und da es jetzt, im Frühling, schneit
schweben auch in
blütenlosen Dörfern Blüten nieder. (Peter Ackermann u.a., Die vier Jahreszeiten, S. 17)

Sasameyuki“, der feine, der zart tänzelnde Schnee, ist auch eines der vielen vorgegebenen sogenannten Jahreszeitenwörter (kigo), auf die japanische Profi- und Hobbydichter in der Geschichte und auch heute noch zurückgreifen können.

Hauptgestalt Yukiko

„Was vornehm ist - Schnee auf Pflaumenblüten“, meinte schon die Hofdame Sei Shonagon in ihrem hochberühmten „Kopfkissenbuch“(Makura no zôshi) um 1000 nach Christus. Sei Shonagon wird zwar als charakterlich frivol geschildet, also ganz anders als die feine zurückhaltende Yukiko, aber sie musste trotzdem - entsprechend den Sitten der Heian-Zeit - ebenso bzw. noch viel zurückgezogener leben. Yukiko, das Schneekind des Romans, würde, so wie sie geschildert wird, ganz freiwillig in der für eine „altjapanische“ vornehme Dame selbstverständlichen Zurückgezogenheit verharren und das Leben begreifen wie den anmutig herabtänzelnden Schnee, der in der nächsten Minute zerschmolzen ist.

Im Wort Schnee schwingt aber neben der Melancholie der Vergänglichkeit und des schönen Augenblicks auch das Image von Reinheit, von Frische und Unberührtheit, von Unschuld mit. Und diese Bedeutung der Metapher zielt ebenso auf Yukiko, in der Tanikzaki seine „risô no josei“, sein Frauenideal, beschrieben haben soll. Der Autor habe wohl diese ideale Frau mit dem Buch in alle Ewigkeit festhalten wollen, lese ich im Nachwort zur Taschenbuchausgabe von „Sasameyuki“.

Atmosphäre des Buchs

Dieses Wort „sasameyuki“ ist also ein Bild, das auffallenderweise nicht wirklich im Buch vorkommt, aber dicht getränkt ist von Assoziationen und Anspielungen in Verbindung mit den Personen des Textes, und zusätzlich für japanische LeserInnen die Atmosphäre, die der Autor im Roman schaffen wollte, sofort heraufbeschwört.

Verbot des Buchs

Diese Atmosphäre ist auch ein Grund dafür, dass dieses Buch einerseits von manchen als „zutiefst konservatives“ Werk angesehen wird und dass anderseits die japanische Militärzensur das Erscheinen des Buchs verbot, weil es „nicht zur politischen Situation paßt (jikyoku no sowanu).“ Tanizaki begann es ja während des Krieges in der ersten Hälfte der Vierzigerjahre zu schreiben.

Die Beurteilung „zutiefst konservativ“ überraschte mich fürs erste, denn ich las das Buch vor allem als eine soziologische Studie, welche die unmenschlichen Seiten des traditionellen japanischen Familiensystems aufzeigt.

Nostalgie nach der Vergangenheit

Aber um noch bei dem schwebenden Bild von „sasameyuki“ zu bleiben, Tanizaki schildert diese Probleme ohne eigene Stellungnahme, auf eine leichte, scheinbar dahinplaudernde, scheinbar ziellose Art, - auch dabei in der Tradition großer japanischer Literatur. Daher gehen einem diese Probleme auch nicht wirklich nahe. Das traurige Los der Taeko etwa verursacht keine Tränen. Und die politischen und sozialen schlimmen Ereignisse plätschern wie letzte Ausläufer von Riesenwellen ganz leise an den Leser heran, oder um beim Bild zu bleiben, wie ein paar Schneeflocken, die als letzte Ausläufer einer sehr fernen riesigen Lawine aus dem Irgendwo herantänzeln.

Tanizaki bleibt in der Schilderung der Zeit und der Familienverhältnisse quasi objektiv, obwohl er natürlich, auf die Art, wie er die Welt in den schwierigen Zeiten der End-Dreißiger und Anfang-Vierzigerjahre beschreibt, indirekt deutlich seine Meinung wiedergibt.

Tanizaki kämpft in Wirklichkeit nicht gegen das traditionelle Japan, dessen Familiensystem keine Rücksicht auf Einzelschicksale nahm. Das ist wohl eher eine westliche und vielleicht auch weibliche Auslegung. Sondern im Gegenteil, er beschwört in schönen Bildern und hunderten Anspielungen und Zitaten aus der Welt von Dichtung, Kunst und Brauchtum diese vergehende Welt und seine Liebe zu ihr.

Das ist ein Grund, warum ihn die Linken nicht mochten.

Dass Tanizaki es aber auch in seinen Schilderungen, die er ja während der Kriegszeit schrieb, an patriotischem Eifer oder gar nationalistischen Feuer fehlen ließ, machte ihn wieder dem Militärregime verdächtig.

Der Roman „Sasameyuki“ zehrt stark von der berühmtesten Erzählung Japans, dem „Genji monogatari“ (Die Geschichte vom Prinzen Genji), das von einer Frau, Murasaki Shikibu, um 1000 nach Christus geschrieben wurde. Diese Erzählung handelt nur von Lebensgenuss und Liebes- und Heiratsachen unter Adeligen der damaligen Zeit.
Tanikzaki übertrug zeitgleich mit „Sasameyuki“ dieses „Genji monogatari“ ins moderne Japanisch. Man muss wissen, dass der japanische Nationalismus und Imperialismus sich aber viel eher auf die männliche masochistische todessüchtige Tradition des japanischen Feudalismus und Samuraigeistes (bushido - Weg des Kriegers, seppuku - ritueller Selbstmord etc.) der Tokugawa-Zeit berief als auf die „weibische“ schöngeistige Frauenliteratur der Heian-Zeit.

Tanizakis Roman kann also als Negierung des nationalistischen neo-Bushido-Geistes verstanden werden. Er bezieht sich gerade nicht auf die Assoziationen "fallender Schnee", "Kirschblüten", "Blutstropfen" und herrlicher Kriegertod, womöglich durch eigene Hand oder eigenen Entschluss, sondern auf die mono no aware-Sicht der Heian-Zeit: fallender Schnee und die kurze Pracht der Kirschblüten als Metapher für die wehmütige Schönheit des Augenblicks und für den Lebensgenuss angesichts der Vergänglichkeit des Daseins, oder sogar stimuliert durch die Vergänglichkeit des Daseins. Das ist eine ganz andere Philosophie des Fließen- und Gewährenlassens von Schönheit und Vergehen statt äußerster Anspannung und Todesverherrlichung.

Schnee und Leidenschaft

Schnee kommt in der japanischen Literatur und Überlieferung auch in Verbindung mit Leidenschaft und Verstrickung durch Liebe vor. Zum Beispiel in der Geschichte von Oshichi, der Tochter des Gemüsehändlers, die in der Tokugawa-Zeit (1683) spielt, von Ihara Saikaku in sein Werk Koshoku gonin onna (Die Lust von 5 Frauen) aufgenommen wurde und heute noch immer im Kabukitheater zu sehen ist. Oder in der Geschichte der Geisha Komako im Roman Yukiguni (Schneeland) des Nobelpreisträgers Kawabata Yasunari. In beiden Werken lieben Frauen heiß und unglücklich. Die Gegensätze Feuer und Schnee sind starke Bilder, die der Verdeutlichung dieser Gefühle dienen. Und dann gibt es zum Beispiel auch die Schneefrau, die Yukionna. Märchen und Sagen über diese unheilbringende Schöne, die Männer verzaubert und sie dann erfrieren läßt, haben bis heute überlebt.

Solche Inhalte der literarischen Metapher Schnee sind aber mit Sasameyuki nur mühsam zu verbinden, scheint mir. Wenn man anderseits doch sagen könnte, dass die Gestalt der Taeko durchaus diesen Gegensatz zum Bild des "leichten Schnees" verkörpert.

Die vier Schwestern

Ziemlich am Anfang des Romans werden drei der vier schönen Schwestern, Sachiko, die zweitälteste, Yukiko und Taeko, vorgestellt:

So mancher bewundernde Blick folgte den drei Schwestern, wenn sie an schönen Tagen, zum Ausgehen geputzt, den Weg neben der Hankyu-Bahn entlangschritten, der bei den Einheimischen der Wasserleitungsweg hieß. ... Obwohl Sachiko eine sechsjährige Tochter hatte, wirkte sie wie eine Frau von siebenundzwanzig oder achtundzwanzig Jahren. Die noch unverheiratete Yukiko schätzte man auf dreiundzwanzig, höchstens vierundzwanzig, während Taeko von vielen für eine Siebzehnjährige gehalten wurde. Yukiko hatte eigentlich keinen Anspruch mehr auf die Bezeichnung "junges Mädchen", doch niemand fand etwas dabei, sie so zu nennen. Allen dreien standen bunte und prächtige Gewänder gut zu Gesicht, und sie bevorzugten die hellen Farben nicht etwa, um jünger zu erscheinen, sondern einfach deswegen, weil Kimonos, die ihrem Alter angemessen waren, nicht zu ihnen paßten ... Die Schwestern waren einander ähnlich, und doch zeichnete sich jede von ihnen durch eine Schönheit eigener Art aus, so daß ein überaus reizvoller Kontrast entstand. Was für anmutige Schwestern! dachte jeder, der sie sah. Sachiko war die größte, dann folgte in regelmäßigen Abständen Yukiko und Taeko, ... Yukiko war die japanischte in Aussehen und Gebaren, Taeko die europäischeste, und Sachiko hielt genau die Mitte. Taeko hatte ein rundes Gesicht mit ausgeprägten ZÜgen, und dazu gehörte ein gut proportionierter Körper, der fest und stämmig war. Yukiko dagegen hatteein ovales Gesicht, das ausgezeichnet mit ihrer schlanken, zarten Gestalt harmonierte, während Sachiko die Vorzüge ihrer Schwestern in sich zu vereinigen schien. Auch in der Kleidung gab es Unterschiede: Taeko war europäisch angzogen, Yukiko japanisch, und Sachiko trug im Sommer europäische Sachen, sonst aber japanische. Sachiko und taeko glichen beide ihrem Vater; sie waren lebhaft und schienen einen hellen Glanz auszustrahlen. Yukiko dagegen wirkte einsam und schwermütig, und doch kam ihre Schönheit seltsamerweise am besten in farbenfreudigen Kimonos zur Geltung, wie sie früher die Hofdamen getragen hatten.
(Die Schwestern Makioka, S. 38 f).
Auch im weiteren Verlauf gibt uns Tanizaki kaum detailliertere Hinweise auf die Schönheit der Schwestern. Wir erfahren aber, dass auch Tsuruko, die vierte Schwester, sehr schön ist und dafür, dass sie die Mutter mehrerer Kinder ist, äußerst gut erhalten aussieht.

Japanische Schreibung der Namen

Es ist interessant, die japanische Schreibung der Namen der vier Schwestern kurz zu betrachten. Im Japanischen ist es ja möglich, durch verschiedene Lesungen und verschiedene Bedeutungen ein und desselben Zeichens eine Fülle von Assoziationen gleichzeitig hervorzurufen.

Wir haben also Yukiko, deren Name mit den Zeichen für Schnee und für Kind geschrieben wird. Sie, die zweitjüngste Schwester, ist, wie bereits geschildert, eine zarte, vornehm und traditionell wirkende, zurückhaltende Person. Taeko, die Jüngste, wird Koisan genannt, was in der Gegend von Osaka für das Nesthäkchen üblich ist. Was bedeuten die beiden Schriftzeichen des Namens Taeko?

„Ko“ heißt Kind. Und „tae“ kommt von „taenaru“, im Japanese-English Dictionary, revised edition von 1966, des Andrew Nathaniel Nelson wird dieses Wort als "exquisite, excellent, melodious, delicate, charming" übersetzt. In der chinesischen Lesung wird das Zeichen auch als „myô“ gelesen. Und dann heißt es „strange, queer, mystery, miracle, cleverness“. Das ist ein gutes Beispiel für die Assoziationsmöglichkeit und Suggestionskraft japanischer Wörter, die die gesamte japanische Dichtung auszeichnet. Taeko bedeutet also "charmantes, kluges, reizendes Kind". Aber auch komisch, seltsam und "clever" schwingt mit. Es könnte sein, dass Tanizaki allein durch die Auswahl der Schriftzeichen für die Namen seiner Protagonistinnen bereits seine Einstellung zu ihnen fixiert hat.

Der Name Sachiko bedeutet Glückskind. Sachiko ist ohne Zweifel diejenige, die der Autor als die Glücklichste darstellt. Sie hat eine gute Beziehung zu ihrem Ehemann Teinosuke, der lyrisch veranlagt ist, was geschätzt wird, sie zweifelt zwar die Tradition nicht an, also die Verpflichtung gegenüber der Familie (giri), aber sie hat doch ein großes Reservoir an ninjô – Liebe, Zuneigung. Das stürzt sie natürlich auch immer wieder in inneren Zweispalt.

Tsuruko schließlich bedeutet Kranichkind. Kranich ist, wie man vom Papierfalten weiß, ein Glückssymbol in Japan. Tsuruko, die rigide Vertreterin der Familientradition, wird aber von Tanizaki ziemlich entfernt und blass gezeichnet.

Autobiographisches

Zu erwähnen ist noch, dass der Roman autobiographische Züge hat.
Tanikzaki war nach dem großen Kantô-Erdbeben in die Gegend von Kyôto und Osaka gezogen. Seine dritte Frau Morita Matsuko heiratete er 1935. Sie stammte aus einer Schiffsbauerfamilie. Sie und ihre drei Schwestern sind Modelle für die Schwestern Maikoka. Tanizaki lebte gemeinsam mit Matsuko und ihren zwei jüngeren Schwestern. Die kleine Etsuko des Romans ist von der Tochter seiner Frau aus der vorhergehenden Ehe inspiriert. Der Roman ist aber kein "Schlüsselroman" ist, und kann nicht mit der japanischen Tradition des "Ich-Romans" in Beziehung gebracht werden. Dennoch scheint sich das Autobiographische bei der Charakterisierung der Personen, vor allem bei Sachiko, die seiner Gattin Matsuko entspricht, auszuwirken.
Sachiko, innerlich gespalten zwischen Verpflichtung und Gefühl, ist die Gestalt, die am realistischsten ist und am „zeitgenössischsten“.

Die vier Schwestern und die japanische Gesellschaft

Tanizaki Junichirô, der einerseits die vergehende traditionelle Welt mit Liebe ausmalt, schildert an den anderen drei Schwestern aber auch mit ironischer Distanz deren Untergang: Tsuruko veramt in einem wackeligen Häuschen in Tokyo, das beim ersten Taifun einzustürzen droht, Yukiko heiratet einen eher heruntergekommenen Adeligen, Taeko stürzt ans untere Ende der sozialen Skala.

Soziologisch betrachtet stellen Tsuruko und Yukiko die traditionelle Moral und das traditionelle Frauenideal dar, in der Person der Tsuruko bereits etwas abgenützt durch die praktische Ausübung, in Yukiko jedoch noch vor der Umsetzung als Verkörperung der reinen Idee.

Yukiko, die Idealperson, die für die LeserInnen etwas blutleer bleibt, ist ein dem Autor vorschwebender Traum aus der Vergangenheit, jedenfalls an der gesellschaftlichen Realität gemessen ein „Auslaufmodell“.

Taeko ist hingegen die Pionierin der Zukunft. In ihrer Zeit und vor allem in ihrem sozialen Milieu – das noch mehr – ist sie ein ständiger Reibestein für die Umgebung. Sie ist eine moderne Frau im heutigen Sinn. Was sie verlangt, sich wünscht und tut erscheint uns, zumindest im Westen, als akzeptabel. Nicht aber in ihrer Umgebung und ihrer Zeit. Während Yukiko am Ende in die Ehe mit einem trinkfreundigen hochgestellten Herren entschwebt, wird Taeko gedemütigt, aus der Familie ausgestoßen, muss eine Schwangerschaft als alleinstehende Frau ertragen und verliert noch dazu ihr Kind. Am Schluss entschwindet sie in ein bescheidenes Leben mit einem Barkeeper, dem gesellschaftlich verachteten Pendant zu Yukikos Adeligen.

Unter diesem Blickwinkel scheint sich die kühle kunstvolle Erzählung Tanizakis fast zu einem etwas dick aufgetragenen Zeitdrama zu wandeln.

Ein kleiner Trost - nicht für die Personen des Romans, aber zumindest für mich als Leserin - ist es, dass wie Tanizaki es befürchtet hat, heute die Welt, die er schilderte, Vergangenheit ist. Frauen wie Taeko gibt es auch heute nicht viele in Japan, denn auf Konfrontation mit der Umwelt zu gehen, das ist für die meisten noch immer schwer. Aber der Wunsch, den Mann seiner Wahl zu heiraten und berufstätig zu sein, zieht nicht mehr eine totale Konfrontation mit der Familie nach sich, sondern ist normal geworden.

Das Dienstmädchen O-haru

Noch eine Frau kommt vor, eine einzige Person, die nicht aus der trotz Niedergang wohlhabenden oberen Mittelschicht oder unteren Oberschicht stammt. O-haru vertritt die Mädchen aus der armen Unterschicht. Damals, bis 1945, war es noch normal, dass ein junges Mädchen, meistens fast noch Kind, als Dienstmädchen weggegeben wurde. Bis zur Heirat, die von den Eltern oder den Dienstherren arrangiert wurde. Wir erfahren auf der letzten Seite des Buchs, das auch O-haru jetzt unter die Haube kommt!

Außerhalb der Schicht der Makiokas gab es aber auch in den Dreißigerjahren schon eine Welt berufstätiger Frauen. Viele Mittelschichtfrauen arbeiteten, allerdings in der Regel nur bis zur Verheiratung, außer sie waren selbständig wie „die Itani“ (die Heiratsvermittlerin des Romans) oder Bäurinnen oder arm.

Ein paar Schlagwörter zu Tanizaki Junichirô

Tanizaki Junichirô wurde am 24. 7. 1886 in Tôkyô geboren und starb am 30. Juli 1965 in Yugawara (Präfekutur Kanagawa). Romanautor, Erzähler, Essayist, Filmdrehbücher etc. Sohn einer alten Kaufmannsfamilie. Studierte englische und japanische Literatur an der Kaiserlichen Universität in Tôkyô, brach Studium wegen Geldmangel ab, und wurde bald ein bekannter Schriftsteller. Vorliebe für das Morbide, Masochistische, Abgründige, Pathologische, Exotische. Im Zentrum der meisten Geschichten außer Sasameyuki die Darstellung schöner, herrischer und unheilbringender Frauenspersonen.

1932 bis 1941 übertrug er das „Genji monogatari“ „einfühlsam und doch eigenwillig“ in modernes Japanisch. In Komposition und Figurenzeichnung bis hin zu den einzelnen Motiven habe dieses „Meisterwerk der höfischen Literatur Taniszakis großangelegten Familienroman Sasameyuki“ beeinflusst (Jürgen Berndt). Spätere Bücher schließen an die Inhalte seiner vorhergehenden Romane an. Tanizaki schreibt selbst, dass er Genji nicht bewußt nachgeschrieben habe, aber dass das Werk ihn sicher beim Schreiben von Sasameyuki beeinflusst habe.

Tanikzaki ist einer der am meisten übersetzten japanischen Schriftsteller der modernen Zeit (siehe Literaturliste in der Vorstellung der "Japanischen Gegenwartsliteratur" von Hijiya-Kirschnereit (S. 84 ff)). Sicher hängt das damit zusammen, dass er einerseits erotische Themen und anderseits traditionell japanische Motive behandelt hat, eine Mischung, die im Westen gerne angenommen wird. Bis zu seinem Tod 1965 wurde er im Zusammenhang mit dem Nobelpreis genannt – den dann 1968 Kawabata Yasunari erhielt.

Im Rahmen der Literaturgeschichte wird Tanizaki als „Traditionalist“ bezeichnet und dem sogenannten „Ästhetizismus“ (tanbishugi) in der modernen Literatur zugeordnet. Von der Perspektive der teilweise zeitgleichen proletarischen Literatur aus war, was er schrieb, der Inbegriff des bürgerlichen Literatur. Irmela Hijiya Kirschnereit betont jedoch in ihrer Vorstellung des Dichters die Ironie, die sie als ein wichtiges Stilelement Tanizakis bezeichnet.


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