Ruth Linhart | Japanologie | Biographieprojekt Imai Yasuko
Email, Dienstag 9. Oktober 2001
..... Wenn ich daran denke, dass ich wohl nicht mehr hinfahren werde, erinnere ich mich voll Sehnsucht an Wien, bis zu den winzigsten Szenen. Die Waren im Pam Pam-Supermarkt, die Fußspuren einer Amsel, die im Schnee vor der Universität trippelte, der Schnee auf dem Rücken des steinernen Löwen, den man von Ursulas Esszimmer aus sehen konnte ..... Natürlich fallen mir nicht nur Wiener Szenen ein, die Erinnerungen an die Zeiten, in denen ich mit dir, Ruth-san, zusammen war, sind alle wunderbar. Ich erinnere mich sogar an den Geschmack der Fleischsauce (das war wohl Gulasch) bei der ersten Einladung in deine Wohnung in Sapporo und sogar an die tiefrote Farbe der Kaki-Früchte, leuchtend auf der weißen Wand eines Vorratsgebäudes, die wir aus dem Zugsfenster sahen, als wir nach dem Besuch bei meinem Bruder von Nagano nach Tôkyô fuhren....
In Japan war es für Frauen meiner Generation normal, Hausfrau zu sein, und wenn eine Frau nicht in eine besonders aufgeklärte Familie hineingeboren wurde (wie zum Beispiel Frau Teruoka**), konnte von der Ausübung eines spezialisierten Berufes überhaupt nicht die Rede sein. Ich denke, dass es wirklich gut war, dass ich, obwohl ich von meiner Familie als Außenseiterin angesehen wurde, meinen eigenen Willen durchgesetzt habe. .....
* Das zitierte Email ist ein Beispiel aus der Korrespondenz mit Imai Yasuko, der die Zeit von 1968 bis heute und rund 160 Briefe von Imai Yasuko umfasst.
** Teruoka Itsuko, Sozialwissenschaftlerin und Autorin des Bestsellers "Armes Japan. Die Schattenseite des Wirtschaftsgiganten, Rasch und Röhring, Hamburg 1991.
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